(Letzter Blogeintrag aus der alten Schule.)
1. Erweiterte Textsorten im Deutschunterricht
In den 1970ern und frühen 1980ern ging es darum, Schlager und Trivialliteratur in die Schule zu holen. „Griechischer Wein“ habe ich als Schüler analysiert, Jerry-Cotton-Ausschnitte noch als Lehrkraft im Schulbuch gefunden. Macht man alles nicht mehr.
Denn dann tauchten Graphic Novels in den Lehrplänen auf, letzte heiße Sache, aber ein noch größerer Irrtum. Denn wenn ich mich mit Comics auskenne, dann kann und werde ich das auch so machen, ohne dass es im Lehrplan steht; und wenn ich mich nicht auskenne, dann sollte ich das lassen. Natürlich sind Comics der Analyse wert und bedürftig, aber das gilt für so ziemlich alles; der Gedanke ist eher der, dass man etwas aus der Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen holt – das ist ohnehin kein Wunsch, dem ich einen Freibrief ausstellen will, und Comics sind außerdem nicht Teil ihrer Lebenswelt und waren das auch nie, Lustige Taschenbücher ausgenommen, früher mal. Bleibt noch der Gedanke, dass Comics irgendwie zugänglicher und leichter sind; das stimmt vielleicht, ist aber ein schwaches Argument.
Selten in den Lehrplänen, glaube ich, ist der Gedanke, Computerspiele zu analysieren. Geschichte 11 am bayerischen Gymnasium sagt allerdings, Schüler und Schülerinnen „analysieren beispielhaft populäre, u. a. digitale Formen der Mittelalterrezeption im Vergleich zu wissenschaftlichen Darstellungen“. Der zweite Teil des Lehrplanabschnitts – aus der Didaktikmode heraus sind die Lehrpläne unsinnigerweise in Kompetenzen und Inhalte zweigeteilt, so dass sich alles doppelt – präzisiert dann, dass damit „populäre Formen der Beschäftigung mit dem Mittelalter, z. B. Computer- und Onlinespiel, Mittelalterfest, Reenactment, historischer Roman, Filme oder Serien“ gemeint sind. Meine Meinung dazu: Insgesamt nötig und sinnvoll, aber siehe Comics oben, und vom Format her ist das besonders schwer, weil viele Schülerinnen und Schüler kaum Spiele kennen und erst einmal eine gemeinsame Basis geschaffen werden müsste. Man wird sich also auf Screenshots beschränken – man könnte aber auch Spielanleitungen lesen und vergleichen, aber gibt es diese Textsorte überhaupt noch, oder ist das alles in Tutorial-Levels ausgelagert?
Was schon lange im Lehrplan steht, aber immer stiefmütterlich behandelt wird, ist Film. Die neuen Lehrpäne werten die Filmanalyse auf, man kann in manchen Jahrgangsstufen im Deutschunterricht eine vorgeschriebene Roman-Lektüre durch eine Filmanalyse ersetzen.
(Wovon ich außerhalb des Geschichtslehrplans oben noch nie gehört habe, das sind Fernsehserien als Thema. Auch das ist analysewürdig, und das Format, dem Schüler und Schülerinnen vielleicht am meisten begegnen. Aber das erfordert, dass man viele Episoden sieht.)
2. Film im Deutschunterricht
Wenn es um Film geht, geht es – zum Beispiel im aktuellen Deutschbuch, aber wohl auch sonst – um bestimmte filmtypische Elemente: Schnitt, mise-en-scène, Licht; was Film zur Kunst macht. Also: wie das Drehbuch umgesetzt wird.
Wenn ich mich privat über Film unterhalte, geht es aber meist um anderes, nämlich vor allem um das Drehbuch an sich:
- Sind die Dialoge realistisch? Ist der Film realistisch? (Beides kann natürlich gut oder schlecht sein.)
- Ist die Exposition elegant oder unelegant?
- Gibt es Klischees?
- Ist die Handlung erwartbar oder originell? Gibt es ein Thema, einen roten Faden, werde ich auf Gedanken gebracht?
- Erinnert mich das an andere Filme?
Der übliche Dreiakter mit dem Großen Missverständnis in der Mitte und der Auflösung am Ende; die Heldenreise; die grässlichen, grässlichen Save-the-Cat-Momente langweilen mich nicht im eigentlichen Sinn, aber ich fühle mich beleidigt, wenn sie mir unkommentiert als originell und bestaunenswert vorgesetzt werden. (Save the Cat: So heißt eine populäre Drehbuch-Fibel, die einem dabei hilft, erfolgreiche und formelhafte Drehbücher zu schreiben. Ich fühlte mich schmutzig beim Lesen, aber ein Drehbuchautor im Bekanntenkreis hält recht viel davon.)
Nach dem Drehbuch ist für mich am interessantesten das Szenenbild, einschließlich Kostüm; danach die Musik. Und dann kommen erst Schnitt, Kameraeinstellung, Kamerabewegung. (Da rolle ich höchstens mit den Augen bei der Kranfahrt abwärts von der Straße in Totale, die mit dem herankommenden Auto zur Halbtotalen wird, bis wir den aussteigenden Personen ans Haus folgen: zu oft gesehen.) Die Qualität der Schauspielerinnen und Schauspieler ist sicher sehr wichtig, ich habe aber gar kein Gefühl dafür. Und wie Billy Wilder sagte: „To make a great film you need three things – the script, the script and the script.“
Natürlich würde ich Schülern und Schülerinnen gerne die Tiefenschärfe bei Citizen Kane zeigen, die Schnitte bei 2001 und Lawrence of Arabia, und das mache ich ja auch. Aber eigentlich geht es mir ums Drehbuch.
Und deswegen bin ich mit meiner 9. Klasse auch nicht dem Filmvorschlag im Buch gefolgt (Kurzfilm, prämiert, Migration und Flucht als Thema, viel didaktisches Material vorhanden), sondern wir haben uns Casablanca angeschaut, weil das ein hervorragendes Drehbuch hat.
3. Casablanca
Informationsvermittlung in den ersten Minuten
Die ersten fünf Minuten schauen wir uns gemeinsam an:
- Musik: Dramatisch; exotisch. Dann die Marseillaise.
- Eingeblendete Landkarte von Afrika. Später rotierender Globus mit Ländergrenzen.
- Erzählerstimme: Zweiter Weltkrieg, Gründe für Flucht aus Europa, Fluchtwege (Lissabon und die Wege dorthin), Fortbewegungsmittel; Visaregelungen.
- Parallel dazu Landkarte mit nach und nach eingezeichneter Wegeslinie: Paris – Marseille – über das Mittelmeer nach Oran (Algerien) – Casablanca (Französisch-Marokko).
- Gleichzeitig immer wieder Überblendungen zwischen der Linie auf der Karte und auf Gruppen von Flüchtenden, unterwegs zu Fuß, mit Lastkarren, auf dem Schiff.
- Dann Überblendung auf einen establishing shot von Casablanca, der einzige im Film, der sich nicht gut gehalten hat: Schwenk entlang eines Minaretts nach unten, wo ein buntes Markttreiben herrscht, mit Jongleur, viel auf dem Kopf Getragenem, französisch beschilderten Firmenschildern, Brotverkäufern, Papageien, Fez auf dem Kopf, Äffchen, Handelsgebaren, Frauen mit Fächern – das ist nur für den Exotismus da.
- Dann dramatische Musik (die ersten Noten des Deutschlandlieds?), Überblendung auf ein Büro mit Fernschreiber, wo eine Nachricht hereinkommt, ein Uniformierter gibt (mit leicht französischem Akzent) die Nachricht per Funk an die Exekutivbehörden weiter: Zwei deutsche Kuriere sind getötet worden, Täter wohl auf dem Weg nach Casablanca, alle Verdächtigen zusammentreiben und durchsuchen.
- Dann folgt eine Sequenz, schnell geschnitten, mit französisch uniformierter Polizei, Trillerpfeife, Auto mit Polizisten drin (schnell fahrend, ohne Rücksicht auf das Marktpublikum, das sich zur Seite wirft), sich hastig umsehenden Europäern, die von Polizisten eingesammelt und in einen Transporter geführt werden. Einer versucht sich zu verbergen, wird aber auch angesprochen, soll seinen Pass zeigen, der ist aber ungültig, er flieht, die Kamera folgt ihm und schwenkt an einem jungen Paar vorbei (das demnach später noch einmal auftauchen wird); er wird auf der Flucht erschossen vor einem großen Plakat mit dem Nazi-Kollaborateur und Staatschef des besetzten Frankreich, Pétain (darauf auch ein französischer Slogan, aber den muss man ja nicht verstehen). Bei einer raschen Durchsuchung findet die Polizei antifaschistisches Propagandamaterial, dem Zuschauer kenntlich durch das Lothringer Kreuz der Résistance und den Slogan „Free France“.
- Schnitt auf das Äußere eines Amtsgebäudes, über der Tür steht „LIBERTÉ ÉGALITÉ FRATERNITÉ“, Kamera fährt nach unten und offenbart das „Palais de Justice“, wohin die eingesammelten Männer gebracht werden. Dramatischere Version der Marseillaise.
- Bisher alles fast ohne Dialog. Der kommt jetzt. Aber es ist immer noch Dialog ohne irgendeine Hauptperson, und das merkt man auch: Die Kamera schlendert durch Casablanca und schaut sich um. Das ganze bisherige Verhaftungsgeschehen wurde beoachtet von einem älteren, geldigen, britischen Exilantenpaar, das verwundert im Café sitzt und von einem schon länger hier lebenden Europäer, anscheinend ein weiterer Cafégast, aufgeklärt wird: dass zwei deutsche Kuriere ermordet wurden, dass die Polizei wie gewöhnlich beliebige potentiell Verdächtige zusammentrommelt (wird für später wichtig, von wegen „usual suspects“) und natürlich auch ein hübsches Mädchen für den Polizeipräfekten Renault (wird auch später wichtig). Der freundliche Erklärer warnt noch vor dem Gesindel in Casablanca, lauter Betrüger (man muss sich Casablanca wie Mos Eisley vorstellen) und verabschiedet sich dann; vorher hat er als Taschendieb noch die Brieftasche des Briten geklaut – Exposition und kleine komische Einlage in einem. Den Taschendieb wird man später auch noch einmal kurz sehen. (Alle treffen sich in Ricks Café, wie man weiß).
- Beendet wird diese kurze Szene durch das Geräusch eines überfliegenden Flugzeugs. Schnitt nicht auf dieses, sondern auf erwartungsvolle Gesichter in den Straßen, die sich sehnsüchtig nach dem Flugzeug recken, dann erst das Flugzeug. Dann wieder eine Fahrt entlang der Gesichter in den Straßen, diesmal näher dran, wir landen schließlich bei dem jungen Paar von vorhin, wobei sie zu ihm sagt, so als erfüllbarer Wunschtraum, dass ja vielleicht sie schon morgen in so einer Maschine sitzen könnten. (Das Paar wird später eine kleine Nebenrolle in der Handlung spielen.) Wieder auf das Flugzeug, das jetzt schon tiefer fliegt, und zwar direkt über dem – tagsüber ausgeschalteten – Neonschriftzug „Rick’s Café Americain“ über einem Gebäude. Dann Schnitt auf das landende Flugzeug.
Und das alles in den ersten fünf Minuten des Films, wobei die volle erste Minute auf die Credits – mit Musik und Weltkugel – entfallen. Wie die Szenen da ineinander übergehen und auseinander folgen, wie elegant hier Exposition betrieben wird: das ist wirklich sehr gut gemacht.
Kleinere Gedanken zum Drehbuch
Der Rest des Films ist natürlich nicht so dicht, aber immer noch dicht genug, dass die Schülerinnen und Schüler ein wenig Schwierigkeiten hatten herauszufinden, wer sich gerade wie und warum verhält. Außerdem viel ihnen schwer, die zwei Frauen auseinanderzuhalten – dabei ist die eine blond und die andere dunkelhaarig, vom Rest ganz zu schweigen! Aber am Beamer sieht man die Kontraste tatsächlich nicht so gut.
Der Dialog des Drehbuchs ist auch genial, viele Stellen sind geradezu sprichwörtlich geworden, viele andere Filme sind nach Zitaten daraus benannt, hier eine sicher nicht vollständige Liste:
- The Usual Suspects (1995)
- Play It Again, Sam (1972) (tatsächlich sagt das niemand wörtlich so im Film)
- We’ll Always Have Paris (1988, 1988, 1994, 2008, 2009, 2011, 2015, 2016, 2017, 2021…)
- Here’s Looking At You, Kid (1999, 2002, 2018)
- As Time Goes By (1988, 1992-2005, 2012, 2016, 2018)
- A Beautiful Friendship (1951, 2011, 2017, 2021…)
Und natürlich gibt es andere berühmte Zitate, ich sage nur: „I’m shocked, shocked.“
Weiteres Vorgehen und Aufgaben
Hintergedanken bei der Filmauswahl: Die sollen ruhig mal sehen, dass es Schwarzweißfilme gibt. Und wegen der Propaganda natürlich.
In einem Mebisforum mussten alle Schüler und Schülerinnen jeweils 3 Motive oder Topoi benennen, also Elemente, die sie aus anderen Werken kennen, und 1 Kommentar bei jemand anderem hinterlassen, in dem sie einen Film nennen, wo das jeweils genannte Motiv ebenfalls erscheint. (Das Mitzählen geschieht dabei automatisch, ich schaue nur kurz drüber, ob das inhaltlich stimmt.) Wir hatten: Rückblende, Opferbereitschaft, falscher Anruf, Rauchen, Dreiecksbeziehung, Traum von Amerika, Gutes Ende, Bar, Selbstopferung, wiederholte Sätze und viele mehr.
In einem anderen Forum ging es um Symbole im Film. Das überschneidet sich teilweise, weil manche Symbole als Motiv verbreitet sind.
Gemeinsam entwickelten wir die Parallelen zwischen den USA, Rick und Yvonne. Yvonne ist Ricks abgewiesene Ex-Freundin, die sich aus Enttäuschung erst mit den Nazis abgibt, dann aber inbrünstig in die Marseillaise einstimmt. Überhaupt, diese Szene. Und wenn man dann noch im Kopf hat, dass viele der Schauspieler und Schauspielerinnen im Film, gerade in dieser Szene, Flüchtlinge aus Europa waren, teilweise aus dem aktiven Widerstand kamen, puh. Kitschig? Weiß nicht. Aber mich erreicht diese Szene sehr. Von Schülern und Schülerinnen der 9. Klasse erwarte ich das noch nicht.
Everybody Comes To Rick’s
Letztes Jahr habe ich übrigens Everybody Comes To Rick’s gelesen das – damals unproduzierte – Theaterstück von Murray Burnett und Joan Allison, auf dem der Film basiert. Wenige wissen, dass es diese Grundlage gibt, obwohl sie sogar in den Credits am Anfang genannt wird. In einem Interview Jahrzehnte danach, ich müsste es heraussuchen, wird Ingrid Bergman danach gefragt; es war ihr völlig neu, dass es das gab. Überraschend viel Dialog stammt wörtlich aus dem Drama. Das Ende ist allerdings anders, und es gehört zum Mythos um den Film Casablanca, ist wohl aber eine Tatsache, dass die Schauspieler und Schauspielerinnen nicht wussten, wie der Film ausgehen oder überhaupt weitergehen würde, und das auch sonst einfach noch nicht klar war. Es gab schlicht kein vollständiges Drehbuch zu Beginn der Drehaufnahmen, die Szenen wurden teilweise erst kurz vorher geschrieben und verteilt. (Eher nicht aus dramatischer Absicht heraus, es war halt so.) Und dennoch kam ein Meisterwerk heraus.
Casablanca: Drehbuch Julius J. und Philip G. Epstein, Howard Koch; Regie: Michael Curtiz.
Film in der Schule – Grundwissens-AB und Projekterfahrungen
In einem anderen Blogeintrag erklärt:
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