Am letzten Samstag erschien in der Süddeutschen Zeitung ein ausführlicher Beitrag von Johan Schloemann: „Klassenbewusstsein. Das Land braucht nicht viele Abiturienten, sondern bessere.“ Der wurde in unserem Kollegium, aber sicher auch in anderen viel diskutiert. Der Tenor: Wenn das Abitur zu leicht wird, wird es weniger wert. Und: das Gymnasium wird immer mehr als Maschine empfunden, deren Aufgabe es ist, dass am Ende jeder Schüler ein Abitur kriegt.
Ich will mich dieser Meinung vorsichtig anschließen. Allerdings mit zwei Einschränkungen: ich sehe die angesprochenen Tendenzen auch, halte sie aber noch nicht für so dramatisch. Aber es sind Tendenzen. Und zweitens: ich kann nicht beurteilen, ob unser Land mehr Abiturienten braucht oder bessere.
Wenn es mehr und schlechtere Abiturienten kriegt, dann sicher nicht schlechtere Menschen. Das keinesfalls. Und auch nicht dümmere Menschen. Überhaupt nicht. Der Grad der akademischen Bildung korrespondiert ohnehin nur mäßig mit Intelligenz, wie sie von Intelligenztests gemessen wird. (Beleg fehlt. Weiß jemand eine Quelle?) Beim Gymnasium – und später bei akademischer Bildung – kommt es vielmehr auf Folgendes an:
Das Gymnasium sieht seine Aufgabe darin, alle Schüler gezielt zu fördern, die sich aufgrund ihrer Begabung, ihrer Einsatzfreude, ihres Leistungsvermögens und ihrer Leistungsbereitschaft für ein Studium und für herausgehobene berufliche Aufgaben eignen.
Schüler des Gymnasiums sollen geistig besonders beweglich und phantasievoll sein, gern und schnell, zielstrebig und differenziert lernen sowie über ein gutes Gedächtnis verfügen. Sie müssen die Bereitschaft mitbringen, sich ausdauernd und unter verschiedenen Blickwinkeln mit Denk- und Gestaltungsaufgaben auseinanderzusetzen und dabei zunehmend die Fähigkeit zu Abstraktion und flexiblem Denken, zu eigenständiger Problemlösung und zur zielgerichteten Zusammenarbeit in der Gruppe entwickeln. (Lehrplan)
So sieht laut Lehrplan ein Gymnasiast aus. Wenn 40% eines Jahrgangs diesem Bild entsprechen: wunderbar, sollen alle aufs Gymnasium. Je mehr, desto besser, vermute ich sogar. Und wenn es nur 20% sind?
Die derzeitige Politik scheint eher darauf hinzuzielen, dass einfach 40% am Gymnasium das Abitur machen sollen (wobei es natürlich auch andere Wege gibt, die Hochschulreife zu erlangen). Vielleicht ist das tatsächlich auch sinnvoll, das Abitur wird dann leichter, weil die Schüler weniger dem oben zitierten Bild entsprechen müssen. Aber das aktuelle Niveau wird dann nicht gehalten werden können. Außer, wie gesagt, man schafft es, dass diese 40% tatsächlich dem Bild des Gymnasiasten entsprechen.
Das G8 ist stolz darauf, dass weniger Schüler durchfallen. Andererseits ist das Durchfallen ist auch merklich erschwert worden – was nicht heißt, dass die Leistungen besser geworden sein müssen. Das Pflichtwiederholen ist eine blöde Sache und sollte tatsächlich minimiert werden. Und zwar nicht dadurch, dass man weniger Leistung verlangt, sondern dadurch, dass man fehlende Leistung einfordert und herauskitzelt: Nachprüfungen.
Laut einem Rundschreiben der Landes-Eltern-Vereinigung darf man jetzt nicht nur in den Jahrgangsstufen 5-8, sondern auch in 9 auf Probe vorrücken darf, egal wieviel 5er oder 6er man hat. (Wenn das stimmt, ist es schade, dass Lehrer das so erfahren und nicht vom Kultusministerium.) Und gerundet wird in der elften Klasse so: Einmal 7 und einmal 8 Punkte mündlich, dazu einmal 7 Punkte in der Klausur – gibt natürlich 8 Punkte im Zeugnis, ohne Diskussion. Gerundet wird in der zehnten Klasse so: Einmal 5,50 in Geschichte (wird zu 5), einmal 4,50 in Sozialkunde (wird zu 4), gibt im Zeugnis die gemeinsame Note 4. Klar gibt es dann weniger Pflichtwiederholer. Aber gleichbleibende Leistung wie zuvor halt auch nicht.
Nicht jeder, der wiederholen muss, ist fürs Gymnasium ungeeignet. Nicht jeder, der es verlassen musste, war dafür ungeeignet. Oft kommt nur die Pubertät dazwischen. Andererseits: laut der Definition oben gehört nun mal Ausdauer und Zielstrebigkeit dazu. Ich verstehe natürlich Eltern, dass die für ihr Kind Abitur am Gymnasium wollen. Das braucht man für viele Berufe. Eine Lösung dieses Dilemmas habe ich auch keine. Aber ich gebe wenigstens zu, dass das ein Dilemma ist.
— Drei Einwände will ich nennen. Den ersten habe ich schon angeschnitten: vielleicht macht es nichts aus, dass das Abitur leichter und damit weniger aussagekräftig ist. Mein Bauch sagt nein, aber ich will mich da nicht festlegen.
Zweitens: Das GBlog weist darauf hin, dass das von Schloemann als demokratisch bezeichnete Gymnasium des 19. Jahrhunderts das gar nicht war. Und dass das Gymnasium mitnichten jene „freundliche, ermunternde Souveränität, die sich aus Wissen, Klugheit und Interesse speist“, hervorgebracht hat. Das stimmt wohl, ist aber für die Gegenwart wenig wichtig. Weitere interessante Kritikpunkte siehe dort.
Drittens, und das ist ein echter Einwand und ein echtes Problem: Vielleicht hat das Gymnasium ja gar nicht die für diese Schulform geeignetsten 20% eines Jahrgangs gekriegt. Wenn uns weitere 20% durch die Lappen gehen, obwohl sie geeignet sind, obwohl sie die oben zitierten Kriterien erfüllen, dann könnte man mit diesen 40% den Anspruch des Gymnasiums beibehalten.
Denn es ist laut PISA ja tatsächlich so, und beklagenswert, dass der Schulabschluss der Kinder zu sehr mit der formalen Schulbildung der Eltern korrespondiert: Wenn die Eltern studiert haben, geht das Kind wahrscheinlicher aufs Gymnasium als bei Eltern mit Hauptschulabschluss. Da geht wirklich Potential verloren. (Leute wie ich etwa: bei mir haben die Eltern nicht studiert oder auch nur Abitur.)
Zwei Möglichkeiten gibt es, dieses Phänomen zu erklären: a) Akademiker bringen ihre Kinder eher aufs Gymnasium, obwohl diese gleich gut oder schlecht dafür geeignet sind wie Kinder von Nichtakademikern, oder b) die Kinder von Akademikern haben, wenn sie erst mal 10 Jahre alt sind, mehr Einsatzfreude und Leistungsbereitschaft etc. und sind damit tatsächlich besser fürs Gymnasium geeignet. In beiden Fällen muss man dringend etwas unternehmen. Aber das ist nicht das, was gerade am Gymnasium passiert.
Heute ist Schülerstreik/Demo. Ich bin mäßig gespannt, wer von meinen Elftklässlern dorthin geht. Übel würde ich es keinem nehmen, aber mehr Respekt hätte ich vor einer Demo, wenn sie nicht während der Schulzeit stattfinden würde. Grund zu einer Demo gibt es genug, vieles am G8 ist überstürzt und wenig planvoll eingeführt worden. Deswegen begrüße ich die Demo, unterstütze aber nicht alle ihre Ziele.
Hier geht’s zu den Forderungen der Streikenden. Einige halte ich für begründet, andere für unbegründet. Wahlfreiheit zwischen G9 und G8: von mir aus sehr gerne. (Die Alternative FOS/BOS gibt es jetzt schon, nur wählen diesen Weg noch zu wenige.)
Sehr lesenswert sind auf der Seite die vielen Kommentare, die meisten davon durchaus kritisch (dem Kultusministerium, den Mitschülern und der Demo gegenüber) und mit Augenmaß.
Das deckt sich auch mit meinem Eindruck meines Q11-Informatikkurses. Mit dessen Leistungen und Verhalten bin ich sehr zufrieden, und das, nachdem ich am Anfang den Lehrplan für übertrieben und das Probe-Abitur für viel zu schwer hielt. Ob das auf die anderen Fächer übertragbar ist, kann ich nicht sagen – Informatik ist ein Fach, das man eher freiwillig wählt, und einen Vergleich mit dem G9 gibt es auch nicht, da das Fach ja neu ist.
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