Im letzten Semester der Q12 lasen alle Deutschkurse an meiner Schule Homo faber von Max Frisch. Die Lehrer aller Oberstufen-Deutschkurse haben auch sonst viel zusammengearbeitet, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.
1. Die Referate
Homo faber ist keines meiner Lieblingsbücher, aber die Schüler mochten es immer einigermaßen. Und selbst ich freundete mich wieder damit an. Diesmal gingen wir so vor, dass wir – eine Anregung des Kollegen Z. – uns darauf beschränkten, die Beziehungen zur griechischen Mythologie in dem Roman herausarbeiten zu lassen. Davon gibt es nämlich überraschend viele, und da wir auch viele mündliche Noten brauchten, hielt jeder Schüler ein Referat. Die Themen waren unter anderem folgende:
- Daidalos
- Prometheus
- Hermes
- Ikaros
- Moiren
- (Geburt der) Venus
- Erinnyen
- Orpheus
- Hades, Charon und Styx
- Agammemnon, Klytämnestra und Aigisthos
- Sirenen/Kirke
- Nekyia (Fahrt in die Unterwelt)
- Ödipus
Dabei sollten die Referate alle so aufgebaut sein:
- Beschreibung des antiken Mythos. (Dazu: Deutung des Mythos.)
- Elemente des Mythos in Homo faber.
- Andere Ausformungen des Mythos in der bildenden Kunst, Literatur oder Musik.
Je nach Thema variiert dabei das Gewicht, das man auf die einzelne Punkten legen kann, aber Stoff gibt es bei allen reichlich. Es ist erstaunlich, wie viel in Homo faber steckt, wie viel man über Mythen sagen kann. Das bringt auch den Schülern etwas.
Im Prinzip liefen die Referate gut. Die meisten Schüler haben sich Mühe gegeben, einige sogar viel – kein Wunder, viel Zeit für mündliche Noten ist im letzten Semester nicht, und bei einer 1:1-Gewichtung spielt sie auch eine große Rolle. Nur bei zweien von meinen zwanzig Schülern hatte ich den Eindruck, dass sie weniger Energie darauf verwendet hatten, als ihnen eigentlich möglich war. Nur einmal wurde erkennbar die Stark-Sekundärliteratur zu Homo faber plagiiert – also kommentarlos in etlichen Formulierungen übernommen.
2. Die Links unter den Referaten
Auf einen Punkt muss ich aber beim nächsten Mal noch mehr achten: die verwendeten Quellen. Ja, ich habe den Schülern in der Bibliothek zwei Standardwerke zur griechischen Mythologie gezeigt. Verwendet wurden sie kaum. Stattdessen standen unter den meisten Referaten als Bibliographie drei, vier Weblinks. Eine kleine Auswahl:
- http://www.maerchen.net/antik/gr-daidalos_ika.htm
Das ist eine x-beliebige Webseite mit einer Version der Sage, die es in dieser Fassung auf vielen anderen Seiten auch gibt, und die alle wohl auf die Projekt-Gutenberg-Seite mit dem Text zurückgehen. Die unvollständigen bibliographischen Angaben dort lassen als Quelle vermuten: Märchen und Sagen. Eine Reader’s Digest Sammlung, 2 Bände, Stuttgart, Zürich, Wien: Das Beste 1969. Zitierenswert ist die Quelle ohnehin nicht. Wie schlimm ist es, dass irgendwelche beliebigen Fassungen aus dritter, vierter, fünfter Hand herangezogen werden? Einerseits gehört zu einem Mythos, dass es verschiedene Fassungen gibt. Andererseits zeigt diese Auswahl, dass man nicht den mindesten Gedanken darauf verwendet hat, sich eine gute Quelle zu besorgen. - http://www.schwarzaufweiss.de/kreta/mythen.htm
Schwarzaufweiss. Das Reisemagazin. Das Portal deutschsprachiger Reisejournalisten. - http://www.gardnerian.de/mythologie/hermes.htm
Ob der Schüler gemerkt hat, dass das eine Wicca-Seite ist? Kaum. Er hat jedenfalls mit keiner Silbe auf diese moderne Rolle des Mythos hingewiesen, wäre interessant gewesen. - http://mitglied.multimania.de/votha/rom_gott/hermes.htm
Wenn schon oben drüber steht: „Das Meiste [sic] ist eine kurze Zusammenfassung der Internetseiten des Mythenlexikons (vgl. Linkliste) bzw. der Encarta-Enzyklopädie“, dann sollte der Schüler merken, dass es bessere Quellen gibt. - http://www.denurio.de/meisterinfos/prometheus.txt
Tatsächlich ein gut geeigneter Text. Die Original-Quellenangabe steht auch ganz oben: „plus online – Die Zeitschrift der Universität Salzburg“, Nr. 4 – Juni 2000 – http://www.sbg.ac.at/plus/plus_4_98/gw/prometheus.html.“ In so einem Fall zitiert man dann bitte die Originalquelle, die den Lehrer auch mehr beeindrucken dürfte als der tatsächliche Fundort. Ich meine, nichts gegen Das Schwarze Auge als Rollenspiel, aber als Quelle für ein Referat über griechische Mythen? - http://www.fantasy-und-rollenspiel.de/helden/orpheus.html
Ne, bitte nicht. Ich meine, ich bin ja ein alter Rollenspieler. Aber der Text dort ist außerdem direkt von Wikipedia abgeschrieben, wenn auch ohne Quellenangabe. - http://espritdescalier.de/blog/2008/02/17/orpheus-und-eurydike
Ein Blogartikel, mit eigenem Text und eigenen Gedanken und Quellenangaben: das ist okay. - http://www.vollmer-mythologie.de/agamemnon/
Im Prinzip okay, aber richtiger wäre gewesen, auch hier die Quelle zu nennen: Vollmer’s Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874. Hat der Schüler überhaupt kapiert, woher dieser Text stammt? - http://www.grin.com/de/e-book/105426/frisch-max-homo-faber-inwiefern-unterscheidet-sich-faber-am-schluss
Eine Schul-Facharbeit, was immer das außerhalb Bayerns heißt. Einer der beiden Kommentare darunter lautet: „OK. Sehr unübersichtlich geschrieben! Viele Punkte fehlen. Lass es lieber das nächste mal.“ - http://members.multimania.nl/puschelpfote/homo_faber/blindheit_erinnye.htm
„Puschelpfote“, ernsthaft?
3. Schlussfolgerungen
Meine Interpretation dieser Quellen: die Schüler arbeiten zu Hause und nicht in der Bibliothek, sie leihen sich keine Bücher aus und kopieren sich keine Aufsätze. Das verstehe ich erst mal. Gute Aufsätze sind rar, vor allem in unserer spärlichen Bibliothek. Also bleibt das Web als Quelle. Aber bei der Bewertung dieser Quellen unterlaufen noch Fehler.
Erstens enthalten viele Quellen nur den den Wikipedia-Text, manchmal ohne dass das dort steht, manchmal mit korrekter Angabe. Dann soll man gefälligst Wikipedia selbst als Quelle nennen – entweder die Schüler erkennen den Originalort nicht, oder sie haben verinnerlicht, dass Deutschlehrer keine Wikipedia-Links mögen. Zweitens: manche Links sind gar nicht nötig, etwa ein Link zu einem x-beliebigen Fundort von Heines „Loreley“. Ich nehme an, das liegt daran, dass die Schüler wissen, dass irgendwelche Links von ihnen erwartet werden, dass diese aber eine bestimmte Qualität haben sollen, ist nicht klar. Soviel zum W-Seminar. Drittens fehlt die kritische Würdigung der Seiten: manche sind einfach zu trivial. Das gilt auch für Bücher. Tessloffs Enzyklopädie Mythologie? Vom Hersteller empfohlenes Alter: 10-12 Jahre.
Was für Konsequenzen soll ich aus diesen Links ziehen? Zum einen vielleicht gar keine. Meine eigenen Referatsquellen waren im Gymnasium nicht besser. Und ein gelegentlich eingeschmuggelter alberner Eintrag in der Bibliographie ist Tradition. Aber wann lernen die Schüler einen anderen Umgang mit Quellen – doch erst an der Uni? Ich hatte nicht mal Zeit, das mit den Links groß zu thematisieren.
- In Zukunft bei jedem Link den Namen eines Autors verlangen. Kein Name, keine Verlinkung. Vielleicht achten die Schüler dann mehr darauf, von wem der Text stammt.
- Recherchieren üben. Aber das kostet Zeit.
- Hat das W-Seminar versagt, in dem die Schüler doch wissenschaftspropädeutisch betreut werden sollten? Nicht direkt: W-Seminar ist W-Seminar und Deutschreferat ist Deutschreferat, und die beiden haben nichts miteinander zu tun. Ob das jetzt Wissen oder Kompetenz ist, das im Seminar erworben wurde: es bleibt fürs Seminar reserviert und wird nicht auf andere Fächer übertragen.
- Ein Versuch fürs nächste Jahr, etwa in der 10. Klasse: ein Referat zu Nathan vergeben, etwa „Nathan als Kaufmann/Geld in Nathan„, und zwar an zwei Schüler. Der eine darf als Material nur einen Aufsatz zum Thema nehmen, den ich dem Schüler gebe. Der andere darf das gesamte Internet als Materialquelle verwenden. Wo kommt das interessantere Referat heraus?
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