Dieses Jahr haben wir unseren Pädagogischen Tag schon gehabt. Und zwar nicht am üblichen Buß- und Bettag, sondern an zwei Freitagnachmittagen. Der Inhalt: an unserer Schule haben Lehrer ein Konzept zur Förderung von Lern- und sozialen Kompetenzen entwickelt, das allen Kollegen vorgestellt wurde, da es von der Schule gemeinschaftlich umgesetzt werden soll, von den aktuellen 5. Klassen an langsam aufbauend. Das darf ich hoffentlich öffentlich hier so schreiben, auf der Schulhomepage steht nämlich noch nichts davon. Deshalb halte ich mich mit mehr Details etwas zurück.
Unter anderem habe ich in diesem Zusammenhang auch Ausschnitte aus Treibhäuser der Zukunft von Reinhard Kahl von 2004 gesehen. Die kannte ich zuvor schon. Hm, ja. Ich bin da immer ein bisschen skeptisch. Die Vorzeigeschule des Films, die katholische Bodenseeschule, würde mich als Konfessionslosen schon mal gar nicht als Lehrer annehmen. Überhaupt sind diese Treibhäuser allesamt Orchideenschulen mit jeweils ausgesuchter Klientel, deshalb halte ich viele der Erfahrungen nicht für übertragbar. (Kritisches zum Thema Archiv der Zukunft und Harmut von Hentig auch bei von @ciffi bei der TAZ.) Dennoch sind sie wichtig um uns zu zeigen, was prinzipiell alles möglich ist – wir haben nämlich auch am Gymnasium viel mehr Spielraum, als wir tatsächlich nutzen. Nicht als einzelner Lehrer, aber als ganze Schule.
Mich stört an pädagogischen Konzepten allgemein, dass da sehr wenig experimentell belegt ist, angefangen mit Allvater Piaget. Das sage ich allerdings als absoluter Laie, der lange nicht mehr ernsthaft versucht hat, sich mit wissenschaftlicher Pädagogik zu beschäftigen, vielleicht ist das inzwischen alles ganz anders. Dass etwas einleuchtend klingt und eigentlich logisch ist, reicht mir nicht als Bestätigung. Von Harmut von Hentig habe ich nur sein Bildung gelesen, und die meisten der Beispiele für tolle Lernerfahrungen darin stammen aus der Fiktion: Heidi (Spyri), Kim (Kipling), Simplicissimus (Grimmelshausen), aber auch Autobiographien. Hervorgehoben ist dabei Joan Lowell, „die in ihrem Buch Ich spucke gegen den Wind ihre Kindheit als Kapitänstochter auf einem Segelschiff kurz nach der Jahrhundertwende schildert“ – von der sich beim Recherchieren herausstellt, dass sie von vorn bis hinten erfunden ist.
Empfehlen möchte ich als pädagogische Ergänzung Wie Schüler denken …und was Lehrer darüber wissen sollten von Günther Hoegg. Vom gleichen Autor – Jurist und Schullehrer – hatte ich schon ein Buch über Schulrecht gelesen. Auf dieses Buch kam ich durchs Web, weiß aber keine Details mehr, sonst würde ich verlinken.

Dieses Buch benutzt – bei allem Wohlwollen gegenüber Schülern – andere Metaphern als Treibhäuser der Zukunft. Da geht es eher um Revierverhalten und die Rangordnung in der Gruppe. Der Ausgangspunkt ist aber schlicht der: statt immer wieder den Kopf darüber zu schütteln, dass die Schüler nicht so sind, wie man sie als Lehrer gerne hätte (rational, vernünftig, einsichtig – was selbst Erwachsene nicht immer sind), sollte man herausfinden, warum sie sich nicht so verhalten – und dann damit umgehen. Aktuelles Beispiel aus meinem Unterricht: wenn man Schülern etwa sagt, sie sollen einem bis zum Donnerstag in einer Woche (der nächsten Stunde) Ihre Email-Adresse schicken, dann macht ein Großteil der Klasse das wann? Am Donnerstag spät abends und keinen Tag früher. Beim ersten Mal darf man da noch überrascht sein, danach muss man damit leben, dass die so sind – und herausfinden, warum das so ist. Dann kann man vielleicht etwas daran ändern oder das nächste Mal einen früheren Termin nennen.
Einige Erkenntnisse aus dem Buch für mich:
- Schüler möchten auch eine emotionale Beziehung zum Lehrer – schon mal, weil der ein Erwachsener zum Kennenlernen ist.
- Das Aufteilen in abgeschlossene Einheiten führt dazu, dass man weiß, ab wann man etwas vergessen darf, und das dann auch tut.
- „Löschen funktioniert besser als Strafen“ haben wir alle so gelernt. Dann muss man Autoraser einfach nicht beachten und sie stellen das Verhalten ein?
- Vorschlag von Manfred Spitzer, der auch in Treibhäuser der Zukunft zu Wort kommt, aber sicher nicht damit: Klassenarbeiten a) nicht ankündigen und b) über alles prüfen, außer dem Stoff der letzten Wochen.
- Lügen und Leugnen ist menschlich und natürlich. Also nicht wundern oder ärgern über ein „Aber ich habe doch gar nichts gemacht.“
- Der Hinweis auf die Untersuchung von Karpicke und Blunt (2010, Purdue University), hier die FAZ dazu, dort etwas von Purdue auf Englisch. Der Versuch: Zwei Lerngruppen erhielten Texte mit unbekanntem Inhalt. Die einen verbrachten danach Zeit damit, Mindmaps dazu anzufertigen. Die anderen sollten den Stoff einfach auswendig lernen („practicing retrieval“). Nach einer Woche wurde dann geprüft, wer wieviel verstanden hatte. Die Auswendiglerner lagen weit vorn, auch bei Zusammenhangsfragen.
„When students have the material right in front of them, they think they know it better than they actually do,“ [Karpicke] said. „Many students do not realize that putting the material away and practicing retrieval is such a potent study strategy.“
- Das passt jetzt aber gar nicht ins aktuell populäre Kompetenzverständnis. Allerdings könnte man argumentieren, dass die Geprüften ja wohl nicht ihre Mindmap mitnehmen durften zur Prüfung.
- Sehr schön auch: Regeln muss man nicht groß aufstellen, Regeln entstehen durch die Wiederholung eines bestimmten Verhaltens, und zwar nur so. Allein dafür möchte ich das Buch küssen.
Ich würde es ja gerne verleihen, aber ich habe es schon einem meiner Zehntklässler versprochen. Vielleicht sollte man einfach mehr solche Bücher lesen. Es gibt wohl zuhauf solche Bücher wie „Das ist okay, dein Körper verändert sich“, aber vielleicht braucht es auch einfach mal ein Gehirnerklärbuch.
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