In der Schule (Gymnasium, Bayern) ist die Textsorte Essay im Deutschunterricht eigentlich nur eine Variante des Kommentars mit mehr Zierrat. Das heißt: Parallelismen, Anaphern, Wortspiele (aber die sind schwierig). Sonderregel bei Herrn Rau: keine Ansprache an irgendwelche Leser, und ganz, ganz, ganz wenige Einwort‑, Zweiwort- oder sonstwie unvollständige Sätze sowie rhetorische Fragen. Diese Stilmittel liegen den Schülerinnen und Schüler nämlich ganz nah an der Feder, und diese Stilmittel führen ganz besonders dazu, dass es mich beim Lesen schüttelt. Präskriptiv, deskriptiv, Abwägen, eigener Stil, alles klar – aber schütteln darf es mich nicht.
Geeigneter sind Metaphern und andere Bilder, breit ausgeführte Vergleiche. Als Fingerübung in der 11. Klasse lautete das Thema “Über die Behandlung von Gedichten im Deutschunterricht”, und die Schülerinnen und Schüler sollten den Vergleich mit der Behandlung eines Patienten möglichst weit durchziehen. Hier ein paar Ausschnitte aus Schülerarbeiten:
Die Operation Gedicht
Auf einmal taucht hier in der Deutschstunde ein Gedicht auf. Der Lehrer beschließt nach einer kurzen Diagnose die Behandlung desselben. Die Schüler sind entsetzt. Nun werden sie Zeugen einer brutalen Operation, in der mit Scheren und anderen Instrumenten dem Gedicht zu Leibe gerückt wird. Aber keine Sorge, die heutigen Deutschlehrer haben Ahnung von ihrem Tun, sie sind weitaus erfahrener als die, die früher nur Kräuter verbrannten, um die Illusion einer Heilung hervorzurufen. Dieses Gedicht hat Glück. Mit gezielten Schnitten werden die kritischen Zeilen herausgelöst, um dann vor den Augen der Schüler genauestens seziert zu werden, so dass sie unschädlich und völlig harmlos sind.
Doch warum operiert der Chefarzt immer vor seinen Studenten, der Meister vor den Lehrlingen, der Lehrer vor der Klasse? Es ist doch viel einfacher, so ein Gedicht alleine zu behandeln ohne die lauten Schüler, die doch eh keine Ahnung von dieser Kunst haben. Natürlich ist es das, doch das ist eben nicht im Sinne des Erfinders. Die Erfindung Unterricht, die immer noch einigen Schülern nicht erspart wird, sieht eben das Lehren wichtiger als das Behandeln von Texten an. Es heißt ja nicht umsonst „learning by doing“. Aber was ist, wenn man eine Behandlung gar nicht erlernen will, weil man eher an eine Kräuterverbrennung glaubt? Wenn einem Oberflächlichkeit lieber wäre? Soll man dann zu unmoralischen Operationen gezwungen werden, wenn man seine Zeit weitaus sinnvoller nutzen könnte? […]
Wie das Behandeln von Texten im Deutschunterricht die Schüler krank macht
Es ist wieder so weit: Die Deutschlehrerin kündigt das Datum für die nächste Klausur in 11/2 an. Sie erzählt kurz über die Thematik und den Stoff, woraufhin sie den Schülern zu verstehen gibt, dass sie sich in den kommenden Unterrichtsstunden mit der Behandlung von Texten und Gedichten auseinandersetzen werden. Das soll ihnen helfen, sich in der Klausur zurecht zu finden und eine gute Note abzustauben. Aber wie war das gerade? Sagte sie allen Ernstes, wir würden die Texte “behandeln”? Wird von uns nun auch noch abverlangt, medizinische Fachkompetenz zu haben, um die Krankheit dieser Texte zu diagnostizieren und sie anschließend zu behandeln? Normalerweise hat man während der Klausur zwei bis drei Stifte und ein paar Blätter vor sich liegen. Doch großartig andere Instrumente, wie Chirurgen sie für OPs vor sich haben, besitzt der übliche Schüler nicht – und schon gar nicht während dem Unterricht oder der Klausur – zur Behandlung des Textes.
Natürlich würden viele Schüler hier einräumen, dass eine Klausur oder auch eine Textanalyse die reinste Qual für sie ist und deswegen als Plage oder Krankheit gesehen werden kann. So wird der Text nun zuallererst auf den Ursprung untersucht. Was wollte mir der Autor mit seinem ewigen Rumgeschwafel nur vermitteln? Wo liegt der Ursprung der Krankheit, wo und wieso tut es meinem Patienten weh? Hat man hier endlich einen Ansatz zur Diagnose gefunden, stellt sich schon wieder eine Frage und zwar wie man das Ganze behandeln soll, denn irgendwie muss der Schüler das ja aufs Blatt bringen und die Zusammenhänge verknüpfen. Im Endeffekt hat der Schüler dann aus einem Text eine sechs- bis zehnseitige Abfassung geschrieben, um bei seiner letzten Deutungsthese – im medizinischen Bereich natürlich die Enddiagnose – auf eine passende Schlussfolgerung, die die Krankheit feststellt, zu kommen. Ist das Phänomen dann endlich beseitigt, beginnt der schönste Moment für den Schüler – das letzte Wort ist geschrieben, der Stift kann aus der Hand gelegt und es kann wieder ruhig aufgeatmet werden. Denn die Rumplagerei mit der wirren Krankheit hat endlich ein Ende. Die Krankheit ist beseitigt und die Diagnose steht fest. Diese Gedanken spielen sich wohl im Kopf eines jeden Schülers ab.
Tja…falsch gedacht. Wie so oft im Schulleben und auch im späteren Arbeitsleben hat der untergeordnete Schüler bzw. der Arzt keine Macht und kein Sagen über das Endergebnis seines Handelns. Der Lehrer, der auch vergleichbar mit einem Oberarzt in einem Krankenhaus ist, entscheidet über die endgültige Diagnose oder auch Behandlung. Die Note auf das Werk des Schülers bestimmt über den weiteren Verlauf nach der Behandlung. War die Arbeit schlecht, so kommt es zum Tod und der Schüler schafft im schlimmsten Fall die Klasse nicht, oder es wird eine gute Note und die Behandlung wurde erfolgreich absolviert.
Doch warum färbt diese Behandlung des Textes derart auf den Schüler ab? Ist es nicht auch so, dass Ärzte während und nach der OP psychische Schaden mit sich tragen? So verspürt der Schüler sogar auch noch physische Schmerzen, wie das betäubte, ziehende Gefühl im Handgelenk, das ca. nach der vierten Seite einsetzt. Hinzukommend hat er während seiner Diagnose enormen psychischen Stress, aufgrund der Angst und dem Druck vorm Versagen – eben genauso wie ein Arzt, wenn er vor einem halbnackten, kranken, sogar offenen Körper steht. Aber kann man die Interessen und Merkmale eines Arztes nun wirklich mit denen eines Schülers vergleichen? Der Arzt hat eben Medizin studiert, um seinen Interessen nachzukommen. Der Schüler behandelt den Text, um schnellstmöglich auf ein Ergebnis zu kommen, in der Hoffnung eine gute Note zu kriegen. Doch ob er wirklich interessiert und vertieft ist in den Grundzügen seiner Handlung, das weiß wohl nur der Schüler selbst…
Das mit der Bildersprache hat eigentlich bei allen Schülerinnen geklappt. Gefehlt hat oft ein roter Faden, oder offensichtliche Widersprüche wurden nicht erkannt und stehengelassen – vielleicht weil kein Ziel vorgegeben war, also sich für mehr Lyrik aussprechen, für weniger Lyrik, für alternative Behandlungsmethoden. Ich werde jetzt einige Texte heraussuchen, mit den Schülerinnen die Schwächen durchgehen und sie die Texte überarbeiten lassen. Überarbeiten macht man ohnehin viel zu wenig.