Karl May: Den habe ich in der Grundschule gelesen, ziemlich früh, und vielleicht bis in die fünfte Klasse hinein. Wenn ich in Fahrt war, schaffte ich ein Buch am Tag. Dabei haben mich die Amerika-Geschichten nie so interessiert; ich habe keinen einzigen Winnetou-Band gelesen, die Orient-Erzählungen dafür um so mehr. Vor zweieinhalb Jahren habe ich zufällig angefangen, wieder hineinzulesen, und mich jetzt an den Orientzyklus gemacht.
Durch die Wüste

Es beginnt damit, dass Kara Ben Nemsi und Halef eine Leiche in der Wüste finden, ein ermordeter französischer Kaufmann, wie sich herausstellt. Der Mörder wird verfolgt, aber letztlich bleibt die Tat vorerst ungesühnt und unaufgeklärt. Daraufhin gibt es weitere vorerst unverbundene Episoden: Die Rettung einer Entführten, der Kampf gegen Piraten. Schließlich helfen die beiden einem Beduinenstamm gegen ihre Feinde; Kara ben Nemsi erhält dabei das Pferd Rih als Geschenk. Am Ende zieht er mit Halef und dem Scheich eines befreundeten Stamms in Richtung Türkei, sie wollen den Sohn des Scheichs aus türkischer Gefangenschaft befreien. Dort helfen sie einer großen Gruppe von Jessiden gegen ihre türkischen Feinde. Begleitet werden sie von Sir David Lindsay, einem reichen Engländer, der auf der Suche nach archäologischen Mitbringseln ist, allen voran “fowling-bulls”, geflügelten Stieren.
- Das Episodenhafte hatte ich nicht so in Erinnerung; der Fall des toten Kaufmanns wird erst viel später wieder aufgegriffen werden. Ich konnte mich noch gut erinnern an den gefährlichen Ritt über den Salzsee Schott el Dscherid, an Rih, sonst hatte ich das meiste vergessen. Sehr gut weiß ich noch, wie ich in diesem Buch auf das Wort “Vatermörder” stieß und mir erklären lassen musste. Auch sonst habe ich sicher viel aus dem Buch gelernt: Sunniten, Schiiten, der Koran, Suren, Jessiden, Mekka, die Hadsch, Couscous, Shisha, Piaster, Mariatheresientaler, Pilaw.
Zeitlich scheint das nach den Geschichen aus Am Stillen Ozean zu spielen, da Lindsay direkt davon spricht und sich mit Bezug auf einen spleenigen Engländer daraus vorstellt:
Bin Freund von Sir John Raffley, Mitglied vom Traveller-Klub, London, Near-Street 47.
Das wird vielleicht auch mein erster Kontakt zu spleenigen Engländern und ihren Clubs gewesen sein.
Kara Ben Nemsi ist nicht so nervig wie in Im Lande des Mahdi. Er töte nicht gern, und ist schon recht superheldisch, kann Spurenlesen und Faustkämpfen wie Sherlock Holmes und überhaupt alles. Es gibt nur ein- oder zweimal Gefangennahme und Ausbruch, das ist okay. (Der Mahdi bestand quasi nur daraus.)
Durchs wilde Kurdistan
Schwächer als der Vorgängerband. Die Jessiden haben die Türken umzingelt, Kara ben Nemsi hilft bei politischen Verhandlungen und verhindert ein Blutvergießen. Die kleine Gruppe befreit den Sohn des Scheichs und macht sich auf den Rückweg; abseits der türkischen Herrschaft werden sie in die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und nestorianischen Christen hineingezogen. Auch hier vermittelt unser Held und verhindert sinnloses Blutvergießen. Kara ben Nemsi hat am Anfang nicht viel zu tun, aber der Scheich, der ihn begleitet, und Sir David, der später zu ihm stößt, noch viel weniger, die sind reine Staffage.
- Insgesamt schon etwas mehr Gefangennahme und Ausbruch, aber weiterhin erträglich. Das ständig thematisierte Christentum des Helden war mir als Kind nicht aufgefallen; beim wiederlesen erschien es mir plump, aber nicht wirklich störend. Bei einem modernen Autor würde mich das Belehrende viel mehr stören, warum ist das im Orientzyklus nicht so?
Voll an mir vorbeigegangen ist der zum Teil abgedruckte Prester-John-Brief; ich habe keinerlei Erinnerung daran. Bewusst bin ich diesem Stoff wenige Jahre nach der Karl-May-Lektüre begegnet, in einem Heft der Fantastic Four, richtig informiert habe ich mich erst bei der Marco-Polo-Lektüre neulich: Im 12. Jahrhundert tauchte ein Brief eines sagenhaften Priesterkönigs Johannes auf, der angeblich in Asien über ein großes christliches Reich herrschte und seinen Brüdern im Westen diesen Brief schrieb. Auch der bei Marco Polo wiederholte Trick mit dem Asbesthemd wird zitiert.
- Karl May schreibt gar nicht schlecht. Nur seine Plots sind sehr schwach. Gefangennehmen, Entkommen, Befreien; Verhandeln zwischen verfeindeten Parteien, das wiederholt sich ständig. Der Held kommt in eine neue Stadt, er schafft sich einen neuen Freund unter der Bevölkerung, weil da jemand krank oder vergiftet ist und er mit seinem überlegenen deutschen Wissen helfen kann, worauf er jemand hat, der ihn später aus der nächsten Gefahr retten wird.
“Ein Bewohner von Amadijah, dessen Tochter krank ist.”
führt regelmäßig zu zu:
“ ‘Du hast nicht ihr allein, sondern auch mir das Leben erhalten, und du weißt nicht, wie gut dies ist für viele, die du weder kennst noch jemals gesehen hast.’ ”
Das ist ein- oder zweimal okay, aber mit der Zeit wird es auffällig.
Karl May ist bewusst, dass er in einer literarischen Tradition schreibt:
Wie oft hatte ich gelesen, daß ein Gefangener durch die Berauschung seiner Wächter befreit worden sei, und mich über diesen verbrauchten Schriftstellercoup geärgert! Und jetzt befand ich mich in voller Wirklichkeit infolge eines Rausches in dem Besitze aller Gefangenen.
Und doch: Die Bücher sind page turner, lesen sich fast von selbst. Ja, andere Völker werden von oben herab betrachtet, als unreife Kinder, aber immer wieder auch mit Toleranz, Verständnis und Aufruf zum Frieden. Wo liest man denn in der deutschen Hochliteratur etwas über den Orient? Da fällt mir eigentlich nur der Chinese in Effi Briest ein, den wir Deutschlehrer den Schülerinnen und Schülern gerne verkaufen als Element des Exotischen, Mystischen, Kolportagehaften. Seine Rolle im Buch ist minimal. Bei Karl May habe ich jedenfalls mehr gelernt als bei Fontane.
Diagramm zur Handlung:

- Gelb ist das erste Abenteuer: Der Fund der Leiche, die Verfolgung des Mörders, die Überquerung des Salzsees. Aufgelöst wird es erst später.
- Orange ist das nächste Abenteuer: Die Befreiung einer Entführten. Auch diese Geschichte findet später eine Fortsetzung, und eine Verbindung zur ersten.
- Weiß ist der Rest: Die Abenteuer bei den Beduinen.
- Blau ist alles, was für mich aus Durchs wilde Kurdistan geblieben ist.
Von Bagdad nach Stambul

Kara Ben Nemsi, Halef und Lindsay reiten mit Mohammed Emin und dessen im letzten Band befreiten Sohn Amad el Ghandur über Umwege nach Hause. Es gibt Streit mit einem Kurdenstamm und untereinander, Scheich Mohammed stirbt bei einem Überfall der Kurden auf persische Reisende, Amad sucht Blutrache und verlässt die Gruppe. Die Reisende sind Hassan Ardschir-Mirza, seine Braut und seine Schwester, von Feinden verfolgt und inkognito unterwegs. Kara Ben Nemsi verkauft in des Mirza Auftrag dessen Güter in Bagdad, kann aber nicht verhinden, dass der Mirza und seine Schwester von den Verfolgern umgebracht werden. Sie begegnen einer Todeskarawane, stecken sich mit die Pest
Wieder gesundet wollen sie nach Istanbul, treffen aber vorher den reisenden Kaufmann Jacub Afarah aus Damaskus, der ihnen einen Brief an seinen Bruder dort mitgeben will und sich als Onkel von Isla Ben Maflei aus dem ersten Band herausstellt. In Damaskus lebt unter der Identität eines ermordeten Verwandten niemand anders als Abrahim-Mamur, ein Schurke aus dem ersten Band, mit dem Ziel, Afarah zu bestehlen. Er flüchtet mit geraubtem Gut, wird zwar in den Ruinen von Baalbek gestellt, kann aber entkommen – nach Istanbul. Die Helden ihm nach, zu Isla Ben Maflei und dessen Vater, die Geschäftsbeziehungen zu Henri Galingré unterhalten, dem Vater des Ermordeten Paul aus dem ersten Band, und der ebenfalls betrogen werden soll. Die Bande ist auch bei Galingré involviert. In Istanbul treffen sie auch Omar, der seit dem ersten Band auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters ist. Omar tötet Abrahim-Mamur, der sich als Anführer eine Räuberbande herausstellt, zu der auch der gesuchte Mörder, dessen Bruder und Neffe gehören. Dieser Bruder, Barud el Amasat, befindet sich unter falschem Namen in Adrianopel, und wird von Kara Ben Nemsi, Halef, Omar, Isla Ben Maflei, und dem zur Gruppe gestoßenen Vater Senitzas, Osco, entlarvt. (Sir David Lindsay hat die Reisegruppe kurz vorher entlassen.) Allerdings wird ihm zur Flucht verholfen; sein Sohn Ali Manach wird von Spießgesellen erschossen, damit er nichts ausplaudern kann.
- Als Kind mochte ich diesen Band am wenigsten von den sechs Teilen des Orientzyklus, zumindest konnte ich am wenigsten damit anfangen. Jetzt fand ich ihn am interessantesten – vom ersten Viertel abgesehen, das eine Fortsetzung des letzten Bandes und recht fade ist. Gut ist jetzt, dass die Handlung Fahrt aufnimmt: Es gibt Verschwörungen und eine Räuberbande, die losen Fäden werden verknüpft. Gut sind die Schauplätze – große Städte, die stimmig beschriebene Ruinenstadt Baalbek. Gut ist das Schicksal des verfolgten Mirza; die Pest, an der Kara Ben Nemsi und Halef erkranken, und vor allem die Todeskarawane.
Diese Todeskarawane. Also: Kara Ben Nemsi wird erzählt, dass diejenigen Schiiten, die in der Stadt Kerbela begraben werden, gleich ins Paradies kommen, ohne Umweg über ein Fegefeuer. Deshalb lassen sich viele Schiiten dort begraben. Deshalb gibt es ganze Karawanen mit Leichnamen, die dorthin transportiert werden, über weite Strecken, in großer Hitze – Todeskarawanen, voller Verwesungsgeruch. Sehr eindrucksvoll geschildert. Neil Gaiman hätte seine Freude daran. (Hier eine Diskussion in einem Karl-May-Forum, inwiefern es solche Karawanen tatsächlich gegeben hat: Eher ja.)
- Kara Ben Nemsi ist so heldenhaft wie stets. Hier zeigt er Züge von Sherlock Holmes, zwar mit mehr Bescheidenheit, aber mit dessen Betonung der lernbaren Beobachterei:
“Aber Emir,” fragte Hassan, “wie kannst du an den Messern sehen, wer der Täter war?”
“Sehr leicht! Eine flache Klinge wird einen ganz anderen Schnitt machen, als eine dreikantige, die sich mehr zum Stoße eignet. Die Schnittflächen wurden weit auseinander gedrängt, darum war der Schnitt nicht mit einem dünnen Instrumente geschehen. Und nun blicke her: diese Schnittflächen sind da, wo sie beginnen, nicht glatt, sondern zerrissen und gestülpt; die Klinge, mit der die Tat geschah, hatte also eine sehr bemerkbare Scharte gehabt. Und nun sieh dir diesen Dolch an: er ist der einzige von allen, der eine solche Scharte hat.”
“Herr, deine Weisheit ist zu bewundern!”
“Dieses Lob verdiene ich nicht. Die Erfahrung hat mich gelehrt, in allen Lagen auch das Kleinste zu beobachten; es ist also nicht Weisheit, sondern einfache Gewohnheit von mir.”
In Damaskus stimmt er nicht nur das Klavier des Kaufmanns:
Ich hatte früher als armer Schüler oft Pianos gestimmt, um ein kleines Taschengeld zu erwerben; es fiel mir also nicht sehr schwer, das Klavier in einen spielbaren Zustand zu versetzen.
- sondern überwältigt auch noch die eingeladenen Gäste und Leute auf der Straße mit seinem Klavierspiel.
Die Informationsvermittlung ist manchmal so plump, wie man es sonst nur als übertriebenes Beispiel kennt:
“Aber du hast doch erfahren, wohin er geht. Jedenfalls [d.h. bestimmt] reitet er nach Iskenderiëh, wo Hamd el Amasat, sein Bruder, der dein Oheim ist, auf ihn wartet.”
Dass dieser Bruder der Oheim des Angesprochenen ist, wird der ja wohl wissen.
Diagramm zur Handlung:

- Blau ist das Abenteuer mit dem Kurden, bis zum Tod Scheich Mohhameds. Fade.
- Grün ist das Abenteuer mit dem anonym reisenden Perser. Das ist gut, allein schon mal wegen der Todeskarawane und der Pest.
- Gelb und Orange der Rest: Jacub Afarah bringt sie auf die Spur von Abrahim-Mamur und Barud el Amasat und der Räuberbande, nach Damaskus, Istanbul, Edirne.