In Bayern gibt es wie in allen Ländern verschiedene Möglichkeiten, Noten zu machen, aber vor allem gibt es mündliche Noten und schriftliche Noten. Schriftliche Noten sind meistens größere oder kleinere, angesagte oder überraschende Prüfungen, die sich auf einen kleineren oder größeren Zeitraum beziehen können. Mündliche Noten fallen dabei deutlich besser aus als schriftliche. (Weiß schon, Ausnahmen, ist aber dennoch so, da sind wir uns wohl einig.)
Die schriftlichen Noten zählen dabei mehr als die mündlichen. (Auch das kann man differenzieren; es gibt kleine und große Leistungserhebungen, und große zählen mehr, und meist sind die mündlichen klein und die schriftlichen groß – aber, kurz gesagt, schriftliche zählen in den wissenschaftlichen Fächern mehr.)
Als die ersten Schüler und Schülerinnen des plötzlich eingeführten achtjährigen Gymnasiums am Ende der 9. Klasse waren, wurden die Regelungen für die neue Oberstufe beschlossen, also für die 11. und 12. Klasse. Und die hießen unter anderem de facto: Die mündlichen Noten in der Oberstufe werden stärker gewichtet als bisher, stärker als in Unter- und Mittelstufe.
Beschlossen wird so etwas von der Exekutive, also dem Kultusministerium. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ernsthafte Didaktiker dafür ihren Namen hergegeben haben oder dass ein echter didaktischer Grund dafür bestand, die mündlichen Noten aufzuwerten, es sei denn mit dem Ziel, Noten irgendwann einmal ganz abzuschaffen. (Ein hehres Ziel, aber ich lebe in der Praxis.) Der tatsächliche Grund dürfte der gewesen sein, eine drastische Notenverschlechterung im G8 zu vermeiden, das ja politisch ein Erfolg werden musste.
Und so kam es auch. Weiterhin sind mündliche Noten besser als schriftliche, und das das trägt wesentlich dazu bei, dass die Abiturnoten nicht schlechter, sondern besser geworden sind. Das führt regelmäßig zu Problemen, wenn sich Schüler und Schülerinnen mit der mündlichen Note bis zum Abitur in Deutsch und Mathematik retten und dann in der rein schriftlichen Prüfung die gleichen schlechten Noten kriegen wie bisher – und dann erst einmal die Abiturprüfung nicht bestehen und sich vielleicht noch über eine nachträgliche Ergänzungsprüfung retten können.
Ausgangspunkt dieses Blogeintrags: Der Deutsche Philologenverband fordert aussagekräftigere, also wohl: schlechtere Noten am Gymnasium, Spiegel hier. Früher war 2,3 im Abitur eine gute Note, heute ist sie Durchschnitt. Die Noten von 2007 und 2017 zu vergleichen, macht allerdings insofern wenig Sinn, als Noten de facto nur etwas über relative Leistung aussagen: Jemand mit 1,3 im Abitur ist besser als jemand mit 2,3 (auch wenn die Forschung immer wieder Tendenzen auszumachen scheint, dass bei gleicher Leistung doch Geschlecht, Familienhaus, Name zu unterschiedlicher Benotung führen). Ob jemand mit 1,3 wirklich sehr gut ist, das lässt sich daraus nicht ableiten. Ob die Schüler und Schülerinnen bei gleicher Note heute mehr können oder anderes oder nicht, und ob das gut ist oder nicht – das sind andere, schwierigere Fragen, um die es mir hier gar nicht geht.
Mich treibt vielmehr die Frage um, warum mündliche Noten besser sind als schriftliche. Die tatsächliche Antwort dürfte sein: Erstens Mitgefühl, weil man leichter eine 5 aufs Blatt schreibt statt sie ins Gesicht zu sagen; zweitens Unsicherheit, weil mündliche Noten allgemein viel angreifbarer sind als schriftliche und man sich keinen Ärger holen will; drittens das Gefühl, dass ja genau das von oben und weiter oben gewünscht wird – deshalb ist ja auch die Neuregelung für die G8-Oberstufe eingeführt worden.
Aber vielleicht sehe ich das zu zynisch. Vielleicht gibt es legitime Begründungen dafür, warum es richtig ist, dass mündliche Noten besser sind als schriftliche.
Ein möglicher Grund, oben schon angedeutet: Noten an sich sind schlecht, und je weniger oder je bessere Noten man gibt, desto besser. Das ist grob verkürzt dargestellt, und sorgfältiger argumentiert ist das nicht so schlecht, wie es klingt. Ich vermute mal, aber das mag ein Vorurteil sein, bei der Didaktik an den Universitäten oder Pädagogischen Hochschulen sieht man das oft so. Diese Sicht kann ich mir als Lehrer aber nicht leisten, will auch heißen: bin zu stolz dafür. Ich werde fürs Notengeben bezahlt, auch wenn und gerade weil ich das ungern mache; davor mag ich mich nicht zu sehr drücken.
Ein Grund, könnte der sein, dass mündlichen Noten andere Kompetenzen zugrunde liegen als schriftliche. Und dass bei mündlichen Noten halt immer eher das geprüft wird, was die Schüler und Schülerinnen besser können. Allerdings leuchtet mir das ebenso wenig ein wie der Vorschlag, den ich auf Twitter bekam: Bei schriftlichen Noten arbeiteten die Schüler weniger angeleitet, selbstständiger, daher die schlechteren Noten. Allerdings verstehe ich nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Die Schulordnung kennt keine unterschiedlichen Kriterien für mündliche und schriftliche Noten, ein sehr gut ist immer eine Leistung, die den Anforderungen in besonderem Maße entspricht. Wie sieht die didaktische Rechtfertigung dafür aus, dass die Anforderungen bei mündlichen Noten niedriger sind?
Ich sage nicht, dass mündliche Noten zu gut sind. Vielleicht sind schriftliche auch zu schlecht. Muss es überhaupt 5er und 6er geben? Note 1-4 heißt ja: im Prinzip schon brauchbar, und Note 5-6 heißt: nein, das geht so nicht. Man übt in der Schule keinesfalls, bis alle den Stoff können, sondern halt eine Weile, bis dann endlich die Zeit für die Prüfung da ist. (Jan-Martin Klinge hat neulich überlegt, wie man etwas an diesem Prinzip ändern könnte.) Ist man bei mündlichen Noten da besser und prüft zu einem Zeitpunkt, zu dem die Schüler und Schülerinnen den Stoff gründlich verstanden haben?
(Das glaube ich nicht, nein. Aber es ist ein netter Gedanke.)
Weiß jemand, ob die universitäte Schuldidaktik sich irgendwie zu der Diskrepanz zwischen mündlichen und schriftlichen Noten positioniert? Findet sie die gut, ist sie ihr egal? Beklagenswert oder noch ein Segen?
Nachtrag: Ich verteidige ja gerne mal die Wissenschaft, wenn wieder etwas Offensichtliches festgestellt wurde. Denn auch das Offensichtliche muss erst einmal sauber nachgewiesen werden; am Ende hat’s dann ja vielleicht doch gar nicht gestimmt. In Abwesenheit solcher Untersuchungen zu mündlichen und schriftlichen Noten muss allerdings auch die universitäre Didaktik, wenn sie nicht ihrem schlechten Ruf unter den Praktikern entsprechen will, den Erfahrungen der Experten vertrauen, den Lehrkräften und Schülern und Schülerinnen.
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