R. C. Sherriff, The Hopkins Manuscript (1939)

(4 Kommentare.)

Ich bin durch einen Beitrag in der letzten Ausgabe von Slightly Foxed auf dieses Buch gekommen. Da ist eigentlich jedes Mal ein Buch dabei, das ich danach lese, fast immer mit Gewinn. Vorab ein sehr kurzer Exkurs zur Lust am Untergang.

Invasion literature (Wikipedia) ist ein Genre, das in Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg populär war, H. G. Wells‘ Krieg der Welten ist wohl der bekannteste Vertreter, aber es gab eine richtige Welle, keineswegs alle mit Science-Fiction-Elementen. Ich weiß nicht, ob Chestertons The Flying Inn (1914) am Rande dazu gehört, in dem er ein England beschreibt, das kulturell und politisch vom Osmanischen Reich abhängig ist (Blogeintrag).

Und dann gibt es noch das Weltuntergangsgenre, auch das schon älter, als man meint. Über Jack Londons The Scarlet Plague aus dem Jahr 1912 (Wikipedia) habe ich nie etwas geschrieben, stelle ich gerade fest. The Hopkins Manuscript hat mich, allerdings wirklich um ein paar Ecken herum, erinnert an Ward Moore, Greener Than You Think aus dem Jahr 1947 (gutenberg.org), in dem mit den Mitteln der Wissenschaft modifiziertes Gras immer weiter wächst und sich nicht umbringen lässt und die menschliche Zivilisation zugrunde gehen lässt. Ich habe es herausgesucht, um es wieder zu lesen, die paar Besprechungen, die ich gefunden habe, klangen gut. Selber habe ich das Buch vor vierzig oder mehr Jahren gelesen, eines dieser ikonischen Moewig-Taschenbücher, erschienen 1980, eine Ausgabe, von der ich mich getrennt habe und bei der ich jetzt erst beim Suchen sehe, dass das H. P. Lovecraft auf der Fotomontage des Titelbilds ist.

Aus der gleichen Zeit stammt Die grüne Wolke, im Original The Last Man Alive (1938) von A. S. „Summerhill“ Neill, das – skandalös! – trotz bestätigter Köstlichkeit (Blogeintrag dazu) auf dessen englischer Wikipediaseite mit keiner Silbe erwähnt wird. Bis jetzt habe ich den Weltuntergang in diesem Buch als Plot-Notwendigkeit hingenommen, aber tatsächlich reiht sich auch dieses Buch damit in eine Tradition ein.

Exkurs: Später gibt es dann die eigentlichen postapokalyptischen Romane, Earth Abides (1949), A Canticle For Leibowitz (1959) und so weiter. Ich weiß noch nicht genau, warum ich dafür eine eigene Kategorie möchte.

The Hopkins Manuscript (1939) ist jedenfalls auch so ein Weltuntergangsroman. Dem fiktiven Vorwort der Universität Addis Abeba (natürlich, eine alte Handschrift) entnehmen wir, dass vor achthundert Jahren ein Katastrophe die westiche Zivilisation auslöschte und dass die wiedererstarkte Kultur des Ostens unmittelbar danach in postkolonialem Furor alles vernichtete, was daran erinnerte, so dass die Wissenschaft jetzt leider kaum etwas über diese Zeit weiß. Das europäische Festland ist längt durchkolonialisiert, aber im feuchtkalten England finden sich – sehr selten – noch Spuren der alten Zivilisation, insbesondere eben der Augenzeugenbericht, der den Hauptteil des Romans ausmacht.

Der beginnt dann ebenfalls mit einem Rückblick, und zwar aus einem zerstörten London, sieben Jahre nach der Katastrophe, wo Hopkins beim Schein einer improvisierten Öllampe seine Geschichte aufschreibt. In London leben, vermutet ein Nachbar, nur noch siebenhundert Menschen. Eine andere Nachbarin ist in die National Gallery gezogen. Sie fängt Tauben und brät sie über Feuern aus niederländischen Meistern, für die sie nichts übrig hat, ab und zu auch einem Turner, Constable oder Gainsborough, wenn sie derer überdrüssig ist. Zum Abschied kriegt Hopkins ein wertvolles Kunstwerk, für das er sich höflich bedankt, das er draußen aber achtlos wegwirft.

Aber dann geht endlich der Hauptteil der Geschichte los, ab jetzt gemächlich erzählt. Kurz: Der Mond nähert sich der Erde. Das wissen am Anfang nur wenige; die Regierungen halten das geheim, nach und nach werden Presse und Klerus informiert, um die Weltbevölkerung auf das Schlimmste vorzubereiten. Wird der Mond knapp an der Erde vorbeiziehen (was in dem naturwissenschaftlich nicht auf Realismus angelegten Modell des Romans keine großen Folgen hätte), wird er sie frontal treffen, sie nur streifen?

Man bereitet sich vor, hebt Bunker aus, geht noch einmal ins Theater. In London werden die Nächte unsicher; auf dem Land, wo Hopkins lebt und seine preisgekrönten Hühner züchtet, siegt der Gemeinschaftsgeist, alle packen mit an, selbst Hopkins ist endlich integriert. Kurz vor der Mond-Landung gibt es ein letztes Cricketspiel. Die Monarchie spielt bei all dem übrigens nicht die geringste Rolle, wird nicht einmal erwähnt. Bukolisch geht es zu, Hopkins, der wirklich sehr eitle Eigenbrötler, freundet sich mit einem jungen Geschwisterpaar an, fernab der Zivilisation leben sie friedlich und selbstversorgend dahin.

I liked being silent in the morning, particularly at breakfast, but the presence of this charming girl and exuberant boy was going to call for a higher standard of morning behaviour than I was accustomed to.

Geschlechterrollen werden stereotyp eingesetzt, Schichtzugehörigkeit noch mehr; das Welt- und Menschenbild ist ein bisschen naiv; es gibt die gute einfache englische Landbevölkerung, und es gibt die raffinierten Politiker aus den Städten, die alles nur schlimmer machen. Lob des einfachen Lebens und Handwerks gegenüber der seelenlosen Fabrik. Es gibt kolonialherrschaftliche Aspekte, das Empire und mehr, oder sind es antikolonialistische? Denn all das ist gebrochen durch diesen pompösen und liebevollen Erzähler. Es gibt nicht nur die Katastrophe von außen (hier der Mond, es könnten auch Zombies, Scharlachpest, Sintflut oder Asteroid sein), sondern auch die katastrophale Dummheit der Menschheit in der Reaktion darauf – das scheint mir sehr modern gedacht zu sein.

Der Roman wird gemächlich erzählt und hat ein paar überraschende Wendungen. Ich habe das gerne gelesen, immer in der Hoffnung, dass alles gut ausgehen würde, aber man weiß ja schon am Anfang, dass das so einfach nicht sein würde.

(Meinen Rechtschreibschwierigkeiten beim Wort „Sheriff“ hilft der Name des Autors auch nicht gerade, übrigens.)


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4 Antworten zu „R. C. Sherriff, The Hopkins Manuscript (1939)“

  1. Vielen Dank für diesen spannenden Artikel. Habe gerade Sheriffs „Zwei Wochen im September“ gelesen und sehr gemocht und bin ja ein großer Fan von apokalyptisch/dystopischer Literatur (gern mit etwas Hoffnung verbunden) und habe hier noch einige spannende Bücher entdeckt, die ich noch nicht kannte. Sehr schön. Wünsche ein schönes langes Wochenende. Herzliche Grüße, Sabine

  2. Ach was, langes Wochenende: Ich habe jetzt sogar Ferien. Vielen Dank für die Wünsche!

  3. Aginor

    Zum Weltuntergang: Ich glaube Weltuntergangsgeschichten, inklusive der Frage „was kommt danach, wenn es so etwas wie ein Danach überhaupt gibt“ sind so alt wie die Menschheit oder zumindest die Zivilisation.
    Es ist sozusagen die Frage nach dem Leben nach dem Tode, nur nicht individuell sondern in größerem Rahmen gestellt.
    Das Thema taucht immer wieder auf.

    Daher finden sich diese Erzählungen und Vorstellungen auch in den meisten Religionen. Wenn man es genau betrachtet könnte man bei manchen Religionen sogar sagen dass sie den Jetztzustand als postapokalyptisch beschreiben, z.B. durch eine Fluterzählung oder dergleichen.
    Bei manchen nimmt das ganze einen großen Stellenwert ein, z.B. bei Johannes in der Bibel der Christen, dem Ragnarök der Nordischen Mythologie, Armageddon der Juden (wo auch schon die Sintflut als Quasi-Weltuntergang vorkommt), oder auch beim Weltuntergang der Azteken, bei dem der Glaube soweit ich mich erinnere dahingehend ging, dass er das fünfte derzeitige Ereignis wäre, und unter anderem Jaguare vom Himmel regnen würden.

    Wobei zu erwähnen ist das das Thema der Apokalyptik in der Literatur älter und größer ist als die Postapokalyptik.
    Ich bin kein Experte dafür, habe nur vor paar Jahren mal einen Artikel dazu gelesen. Hatte z.B. im 17. Jahrhundert einen Boom. Thomas Burnet und John Milton wurden da z.B. genannt. Ist aber alles schon sehr christlich geprägt.

    Gruß
    Aginor

  4. Mythologien erklären meist den Anfnag der Welt, und dann – meistens, später, gleichzeitig? – stellen sie sich auch der Frage nach dem Ende. Die Frage nach dem Leben anch dem Tod in größerem Rahmen, ja. Postapokalyptisch ist dann neu, weil es meist ja nicht weitergeht nach dem Ende, oder nicht davon erzählt wird? Nach Ragnarök gibt es allerdings einen Neuanfang, über den aber wohl nicht viel erzählt wird.

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