Alle Welt spricht über soziale Netzwerke, keiner über jene besondere Spielart des MMORPG. Diese Buchstaben stehen für massively multiplayer online role-playing game. Das sind Online-Rollenspiele, bei denen jeder Spieler eine Figur übernimmt (typisch: der theoretisch heldenhafte, in der Praxis eher pragmatische Krieger) und sich mit dieser in einer Welt bewegt (typisch: Fantasywelt wie bei Herr der Ringe), die voll ist mit – neben anderen Gestalten – weiteren solcher Spielerfiguren. Man interagiert miteinander oder mit der Welt, kämpft miteinander oder mit den Gefahren, die die Welt bereitstellt, um das Leben dort spannend zu machen.
World of Warcraft ist wohl das bekannteste MMORPG, aber es gibt viele vergleichbare Spiele (kleiner Überblick). Ich spiele diese Spiele deshalb nicht, weil ich keine Zeit dazu habe – aber den Reiz verstehe ich sofort. Und ich zähle diese Spiele zu den sozialen Netzwerken. Viel sozialer und gesellschaftlicher als in solchen Simulationen kann es kaum mehr werden. Das zeigen mir zwei schöne Artikel bei cracked.com – Cracked war ein MAD-artiges Magazin, anhand einiger Ausgaben dessen ich in prägenden Jahren meine Englischkenntnisse erwarb, das 2007 endgültig eingestellt wurde, aber inzwischen als Website weiterlebt. Cracked.com präsentiert:
The 7 Biggest Dick Moves in the History of Online Gaming und
The 7 Most Elaborate Dick Moves in Online Gaming History
Ungemein lesenswert! Einer meiner Favoriten ist die Blood Plague, eine tödliche und ansteckende Seuche, die von den Machern von World of Warcraft in die Spielwelt gesetzt wurde – lokal begrenzt, konnte sich unmöglich ausbreiten etc. Aber natürlich haben fiese Spieler es doch geschafft, die Seuche aus den Katakomben in den Rest der Welt zu bringen, wo die Seuche dann wütete. Die Betreiber versuchten, die Seuche einzudämmen; die Spieler versuchten, sie über verschiedene Quarantänemaßnahmen hinwegzubringen (BBC-Artikel dazu; das Geschehen diente Bioterrorismusexperten als Fallstudie).
Schön auch das Fallador-Massaker: durch unbedachte Nebenwirkungen erhielten einzelne Spielfiguren bei RuneScape quasi Superkräfte und konnten alle anderen Spielfiguren töten, ohne dass die sich wehren konnten. Was sie dann auch systematisch taten.
(Deswegen glaube ich auch nicht, dass das Internet uns zu besseren Menschen macht und ähnliches Webgedöns. So ist der Mensch. Wer das nicht glaubt, der hat zu viel Rousseau geraucht.)
Direkt schön ist dagegen die Geschichte von Harry bei Asheron’s Call. Also: Bei diesen Spielen präsentieren die Spielemacher gerne groß angelegte Szenarien, eine gewaltige Hintergrundhandlung für ein ganzes Jahr, damit man nicht nur willkürlich auf zufällige Monstergruppen oder Mitspieler einprügeln muss. Bei einer solchen Handlung ging es am Ende um einen Kristall, der zerstört werden sollte – nur dass sich ein Teil der Spielerschaft (selbsternannte Defenders of the Shard) zur Aufgabe machte, eben diesen Kristall zu schützen. Und das gelang auch. Bewachung und Schutz rund um die Uhr. Das Problem war nur: die Welt, auf der sich das ereignete, war nur eine von vielen parallelen Welten im System, und alle anderen Welten mussten auf das Update und neue Abenteuer warten, bis auch diese Welt endlich so weit war. Natürlich kann die Firma einfach den Stecker ziehen und den Kristall wegbeamen, aber das ist schlechter Stil. Also versuchten sie es anders – aber auch das hat episch nicht geklappt. Mehr dazu unter dem Cracked-Link.
(Leider finde ich diesen einen Aufsatz nicht mehr, in dem es um Hochzeiten und Aufführungen innerhalb von MMORPGs ging, wenn ich ich recht erinnere.)
Meine ersten und schönsten MMORPG-Erfahrungen hatte ich in den mittleren 1980er Jahren. Gut, massive war das Spiel für heutige Verhältnisse nicht; ich weiß nicht, wie viele Spieler es gab. Vielleicht nur zehn? Und online war das Spiel auch nicht, sondern offline. Aber ein Rollenspiel war es, und was für eines!
Unsere Augsburger Spielerunde spielte seit vielen Jahren Rollenspiele. Mit Stift und Papier und Würfeln und schon auch mal Zinnfiguren. Natürlich auch mit Regelbüchern, obwohl die bei Rollenspielen weniger wichtig sind, als man vielleicht meint. Neben den klassischen Rollenspielen gab es noch Cosims (Konfliktsimulationen – wargames), auch per Brief. Und es gab Ringhølm, Udos Fantasy-Spielwelt. Ein Sonderfall. Udo wohnte im Sauerland, in Warstein, zweimal haben wir ihn dort besucht, glaube ich. Das Auto war von meinen Eltern geliehen, wir übernachteten im Keller von Udos Eltern. („Ich dachte, ihr wolltet Ostern kommen?“ Lange Geschichte.) Trieben dieses und jenes und spielten auch einmal viele Stunden lang auf Ringhølm. Das war ein Rollenspiel, anders als andere Rollenspiele.
Es gab keine Würfel und keine Regeln, und möglicherweise auch wenig System – Udo sah man nie an, ob er improvisierte oder nicht. Die Welt war groß, riesengroß, größer jedenfalls als unsere Dungeon- und Stadtabenteuer. (Wie in einem MMORPG.) Und es gab kein erkennbares Spielziel, keinen Auftraggeber, der in die rustikale Abenteurerschenke trat und uns Gold dafür versprach, seinen vergessenen Rucksack aus der finsteren Höhle zu holen. Stattdessen setzte uns Udo auf der Welt aus und schaute uns an und fragte uns, was wir denn so täten. (Wie in einem MMORPG.) Und wir stießen immer wieder auf Spuren anderer Spieler. (Wie in einem MMORPG.) Das war – ärgerlichschönfrustrierend. Wo auch immer wir auftraten, ein anderer Spieler war schon vor uns dagewesen, hinterließ uns Grüße und Graffiti, und wir ihm. Gab es diesen und diese anderen Spieler wirklich oder waren sie nur Nichtspielercharaktere, von Udo erschaffen? Vermutlich gab es sie, aber auch das konnten wir nicht sicher sagen. Wir stießen jedenfalls nie auf diese eine Figur, hinter der wir lange her waren. Ärgerlichschönfrustrierend.
Die Abenteuer auf Ringhølm waren skurill. Ich kann mich nicht mal mehr an viel erinnern, aber da war dieser unglaublich coole schwarzgekleidete Teufel, lässig an einen Baum gelehnt, mit dem wir lange verhandelten. Er stellte sich als gelähmt heraus, so dass er uns bat, ihn mitzutragen. Woher die Lähmung? Ein Einfall Udos oder eine Relikt anderer Spielegruppen? Wir haben es nie herausgebracht.
Und dann die andere Geschichte, eigentlich banal – eine live im Rollenspiel erlebte Version von Franz Grillparzers Der Traum ein Leben (1834). Ein „Dramatisches Märchen in vier Aufzügen“, angesiedelt in einer orientalischen Fantasywelt. Der Knackpunkt, wenn ich mich richtig erinnere: ab einer bestimmten Stelle ist das Geschehen nicht mehr real, sondern nur eingebildet; am Ende der Geschichte werden all die vergangenen Jahre zurückgerollt bis zu jenem auslösenden Ereignis und haben quasi nie stattgefunden. Mag ja als Stück ganz nett sein, aber wenn einem das als Rollenspieler geschieht, und zwar gleichfalls nach einigen Jahren an Spielhandlungszeit (die Zeit vergeht auf Ringhølm flexibel, jedenfalls mit Udo als Spielleiter-Erzähler), in die man viel investiert hat, und wenn das auch noch logisch begründet und dramatisch befriedigend ist, dann ist das ein tolles Erlebnis. — Vielleicht muss man aber auch nur jung sein und Grillparzer noch nicht gelesen haben.
1986 bei Udo
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