Ein Freund, der Lyrik sonst eher abhold, erinnerte sich vier Jahrzehnte lang an ein Gedicht, das im Unterricht seiner 11. Klasse besprochen wurde, es muss so um 1982 herum gewesen sein. Das Gedicht suchte er, den Titel wusste er sogar noch, aber niemand konnte ihm helfen – bis zu einem kürzlich erfolgten Klassentreffen, bei dem sich das Gedicht in den alten Unterlagen fand. Hier ist die erste Hälfte davon:

(Die zweite Hälfte behalte ich ein bisschen als Pfand, und um zu schauen, ob die acht Verse oben irgendwann mal als vollständige Version im Web kursieren.)
Das Gedicht wurde im Unterricht einem romantischen oder klassischen Mondgedicht gegenübergestellt. Schlichter als die ist es sicher auch nicht, aber es war für die jungen Leute weniger sentimental als andere Mondlyrik. Talmi, Flaneur, Claqueur: muss man heute, musste man auch damals erklären.
Wer ist Werner Rhode? Wo kommt dieses Gedicht her? Die Lehrkraft von damals erinnert sich nicht, heißt es. Online finde ich nichts; es gibt bei Wikipedia zwei Juristen dieses Namens und zwei anders geschriebene „Werner Rohde“, einer davon KZ-Arzt und Kriegsverbrecher, einer Maler und Fotograf. Suchmaschinen finden eine Hausverwaltung.
Es kann sich um einen Scherz der Lehrkraft handeln, eine Fehlzuschreibung, eine Fehlschreibung. Vielleicht war das ein Gelegenheitsgedicht in einer Leserbriefseite, irgendwo im pardon oder den allerfrühesten Titanic-Jahrgängen, nie in einer anderen Form erschienen. Es muss vor etwa 1982 erschienen sein und klingt nach den 1970ern.
Exkurs: In der letzten der Vier-Jahreszeiten-Geschichten (1982) von Stephen King, „The Breathing Method“, der einzigen nicht verfilmten daraus, gibt es eine unheimliche Geschichte, die ich als nicht besonders wichtig in Erinnerung habe, und eine Rahmenhandlung drumrum um einen Club, in dem sich ältere Männer, ich glaube: nur Männer, treffen und Geschichten erzählen, und an diese Rahmenhandlung erinnere ich mich besser. Klar: ich führe eine Liste solcher mehr oder weniger geheimnisvollen Clubs, und eine Liste mehr oder weniger geheimnisvoller Bibliotheken und bin mir sicher, dass es die auch bei tvtropes gibt. Geheimnisvoll ist die Club-Bibliothek deshalb, weil sie Werke zu enthalten scheint, die anderswo völlig unbekannt sind; ein verbreitetes Topos. Das fällt dem Erzähler zuerst bei einer Anthologie mit einem Gedicht von Archibald MacLeish (1892 – 1982) auf, über dessen Werk er doch Überblick zu haben glaubt:
I have looked for it since then and haven’t been able to find it; which means nothing, of course. Poems are not like novels or legal opinions; they are more like blown leaves and any omnibus volume titled The Complete So-and-So must certainly be a lie. Poems have a way of getting lost under sofas – it is one of their charms, and one of the reasons they endure.
Ich habe auch schon Gedichte im Unterricht verwendet, die ich aus obskuren Quellen habe, etwa von S-Bahn-Plakaten, oder vorangestellt einem Pädagogischen Arbeitsbuch für Lehreranwärter, Referendare, Lehrer- und Lehrergruppen. Bei dem letzteren finde ich Informationen zum Autor und Werk nur online, weil ich den Buchtitel kenne; das Gedicht selber – wenn es eines ist, und es ist eines – hat keine Spur im Netz hinterlassen. Alle Gedichte, von denen ich glaube, sie mal in der Schule verwenden zu können oder zu wollen, speichere ich übrigens in einem eigenen Verzeichnis, so behalte ich den Überblick und finde Inspiration.
Zu meinen Studienzeiten gab es dicke Standardwälzer mit Verzeichnissen, der Eppelsheimer-Köttelwesch (Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft) ist inzwischen online, darin kann man nach Aufsätzen recherchieren; zu Werner Rhode gibt es nichts – das heißt, wenig überraschend, dass es wohl keinen germanistischen Aufsatz zu einem Werk von ihm gibt.
(Ich folge gerade einem Hinweis auf einen Beitrag in einem Ausstellungskatalog. Spannend!)
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