Lord Dunsany, Es ist zu lange her („It’s a long time ago“)

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Nachholschulaufgaben – also: Klassenarbeiten, benotete Aufsätze, die man für ein oder zwei SchülerInnen erstellen muss – sind lästig. Meist greift man auf irgendeine alte Prüfung zurück, die aus irgendeinem Grund nicht so gut geeignet war für die eigentliche Prüfung, das reicht dann schon.

Vor einer Weile habe ich das begonnen anders zu sehen, eher so, wie wenn man ein Theaterstück erst einmal vor kleinem Publikum probt, bevor es in die große Stadt geht. Wenn Fred Astaire das Musical erst einmal in New Haven laufen lässt, und auf dem Weg nach New York verbessert. Es gibt ein paar Texte, die mir als Prüfungsaufgabe vielleicht nicht ganz geeignet erscheinen – Lovecrafts „Die Katzen von Ulthar“ habe ich nur mal als Übungstext verwendet, nie als Prüfung -, die ich aber doch gerne mal ausprobieren würde. Zack, die Nachholschulaufgabe ist gesetzt. Wenn sie sich bewährt, kommt sie ins Repertoire.

Einen solchen Text habe ich neulich ausprobiert. Und zwar wurden in der Fernsehzeitschrift Hörzu vor vielen Jahren ab und zu Kurzgeschichten abgedruckt, wahrscheinlich ist das immer noch so; meist waren die Geschichten nicht interessant. Aber zwei, drei waren es eben doch, die habe ich herausgetrennt und aufgehoben und Jahrzehnte später gescannt, und so komme ich zu der Kurzgeschichte „Es ist zu lange her“ von, man möchte sagen: einem gewissen Lord Dunsany. Die gelblich eingescannten Seiten sind nicht datiert, aber es gibt noch vierstellige Postleitzahlen in den Anzeigen, als muss das spätesten 1993 gewesen sein, vielleicht auch wenige Jahre zuvor.

Lord Dunsany (1878-1957) ist ein ungewöhnlicher Autor für die Hörzu. (Obwohl: die angekündigte nächste Geschichte ist von Miguel de Unamuno, also was weiß ich.) Normalerweise kennt man Dunsany nämlich für Fantasy-Kurzgeschichten mit wunderschönen, wirklich, Titeln wie diesen:

  • Distressing Tale of Thangobrind The Jeweller
  • Probable Adventures of Three Literary Men
  • The Injudicious Prayers of Pombo The Idolater
  • How Nuth Would Have Practised His Art On The Gnoles
  • Why The Milkman Shudders When He Perceives The Dawn
  • How One Came, As Foretold, to The City Of Never
  • How The Office of Postman Fell Vacant in Otford-Under-The-Wold

Aber er hat natürlich viel mehr geschrieben, auch Romane. Zu Lord Dunsany habe ich immer noch eine ungeklärte Frage offen, nämlich welche Rolle sein Gürtel 1922 beim Begräbnis von Michael Collins spielte. Und hier habe ich mal über ein ungewöhnliches Stück Interactive Fiction geschrieben, das eine Dunsany-Geschichte sehr schön umsetzt.

Jedenfalls ist Dunsany eigentlich nichts für Hörzu. Die Geschichte enthält allerdings keinerlei fantastische Elemente. Es ist auch keine seiner makabren Krimigeschichten um Smethers, an die Roald Dahl sich angelehnt haben mag; es ist keine seiner tall tales, die er Jorkens im Club zum besten geben lässt. Es ist eine kleine, nicht einmal sehr gute Kurzgeschichte im Stil von O. Henry vielleicht, die ich aus keiner einzigen englischsprachigen Anthologie kenne.

Aber sie ist in deutscher Übersetzung in der Anthologie Liebesgeschichten aus Irland (Zürich 1969) bei Diogenes erschienen, herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Schnack. Zumindest ab 1979 gab es das Buch auch unter dem Titel Die schönsten Liebesgeschichten aus Irland: Von G.B. Shaw bis Frank O’Connor als Diogenes-Taschenbuch, es gibt noch weitere Ausgaben, aber nicht alle Bände mit diesem Titel sind tatsächlich diese Schnack-Anthologie. Schnack war Übersetzerin und hat viel irische Literatur übersetzt und herausgegeben, hat auch Dunsany übersetzt – bei Wikipedia sind Jorkens und Smethers aufgeführt, keine der Fantasy-Geschichten.

Nur: Ich fand die Geschichte nirgendwo im Werk Dunsanys. Und ich habe eine ganze Menge von ihm gelesen. Auch in der Dunsany-Bibliographie von S. T. Joshi und Darrell Schweitzer (zweite Ausgabe von 2014) habe ich keinen passenden Titel gefunden. Also habe ich mir doch die Diogenes-Anthologie besorgt und lese bei den sauber angegebenen Quellen:

Die Erzählung Es ist zu lange her! stammt unter dem Titel It’s a long time ago! aus einer Manuskriptsammlung. Copyright Messrs. Curtis Brown, London.

Jetzt weiß ich also: Schnack hat eine unveröffentlichte Kurzgeschichte von Dunsany übersetzt und herausgegeben. Ich weiß von keiner anderen Veröffentlichung dieser Geschichte, insbesondere auch nicht auf Englisch. Sie ist auch nicht in den Lost Tales Volume I bis IV oder VI (was in Volume V ist, weiß ich nicht – das sind jeweils nur dünne Bändchen in Kleinstauflage, kosten gebraucht 500+ Dollar das Stück, weshalb ich keines davon habe). Die Geschichte kennen also nur ich und die zwei, die die nachgeholte Schulaufgeschrieben haben, sonst niemand! Na gut, und alle, die die Diogenes-Anthologie oder eine der Nachfolgeausgaben gelesen haben. Aber Joshi, Joshi kennt die Geschichte nicht! Sie ist, wie gesagt, auch nichts Besonderes, aber Dunsany, halt.


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Kommentare

5 Antworten zu „Lord Dunsany, Es ist zu lange her („It’s a long time ago“)“

  1. Yanthar

    Für welche Klasse und welche Schulaufgabenart war der Text? Wenn ich raten sollte, würde ich sagen: 8. Jgst. und Textzusammenfassung.

  2. Genau das!

  3. Da Familie Heinz Becker seit 1992 im Fernsehen lief, sollte sich die Hörzu ziemlich genau datieren lassen.

  4. Gut erwischt, dieses Detail.

  5. […] Herr Rau entdeckte in der Hörzu eine Kurzgeschichte von Lord Dunsany, die im Original auf englisch nie veröffentlicht wurde: Lord Dunsany, Es ist zu lange her („It’s a long time ago“) […]

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