Und dann doch überraschend: Stan Lee ist gestorben, 2018, mit 95 Jahren. Stan Lee kenne ich seit Herbst 1978. da war ich gerade mal elf Jahre alt, Stan Lee 56 – aber für mich zehn bis fünfzehn Jahre jünger. Und das kam so:
In der 5. Klasse entdeckte ich Marvel Comics, namentlich die Serie Die Spinne aus dem Williams-Verlag. EIn Mitschüler brachte mich darauf, und ich war schnell regelmäßiger Leser. Die Hefte kriegte ich am Kiosk an der Endhaltestelle der Straßenbahn in meinem Stadtteil; da fuhr ich mit dem Bus hin und von da aus weiter mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Alle zwei Wochen gab es ein neues Heft, und neben Die Spinne las ich auch die anderen Hefte aus dem gleichen Haus – Die Rächer, Die Fantastischen Vier vor allem.
Auf Flohmärkten fand ich mit einigem Einsatz einen Großteil der zurückliegenden Hefte, und auch die der anderen, bereits eingestellten Serien – und wenige Monate später (nach meinem Gefühl: eine Ewigkeit später) wurden auch die restlichen Williams-Marvel-Serien eingestellt. Just my luck. Aber ich hatte ja die Jagd nach den alten Heften, hatte amerikanische Hefte, die ich – als Folge der vielen amerikanischen Soldaten in Augsburg – auch reichlich auf Flohmärkten fand, und in den Folgejahren bei Urlauben in den USA. Und einen Nachfolgeverlag gab es auch, der viel deutsche Ausgaben produzierte, dem aber völlig der Charme der Williams-Marvels abging. (Allein schon das Handlettering der Williams-Hefte, das nur von heute aus amateurhaft aussieht, und dabei immer noch besser ist als der Pseudo-Handsatz heute.)
Und dieser Charme, der war ein wesentliches Merkmal der Marvels: Die Autoren und Zeichner hatten überbordende Spitznamen, ich weiß nur noch die englischen: Smiling‘ Stan Lee, Dazzlin‘ Don Heck, Adorable Artie SImek, King Kirby, Stainless Steve Ditko, Rascally Roy Thomas, Big John Romita, alle mit lobpreisenden Adjektiven oder Spitznamen versehen. Diese Sprache der 1960er-Marvels übernahm auch das Redaktionsteam der deutschen Fassungen in den Übersetzungen der 1970er-Jahre, als die Geschichten mit zwölf oder fünfzehn Jahren Verspätung erschienen. Das großsprecherisch, markschreierisch – aber bei der Konkurrenz wurden die Namen der Autoren, Zeichner, Tuscher überhaupt nicht genannt. Marvel gab ihnen Identitäten. Ein gezeichneter Stan Lee sprach den Leser mit weitausladenden Gesten direkt an, „Excelsior“ sein Schlachtruf. Marvel-Comics waren nicht einfach da, sie wurden erkennbar von Menschen gemacht.
Dass der amerikanische Bullpen – die künstlerischen Mitarbeiter im Verlag – gar nicht so war wie dargestellt, klar; und auch die Figur, die Stan Lee für sich erfunden hatte, entsprach sicher nicht der Wirklichkeit – aber die Unterschrift, der Schnurrbart, das liebenswert Großsprecherische, das war schon auch echt. Stan Lee war das Gesicht von Marvel, der Co-Erfinder fast aller frühen Marvel-Superhelden, der Autor vieler früher Geschichten – Stan Lee und Steve Ditko bei Spider-Man, Stan Lee und Jack Kirby bei The Fantastic Four, das sind zurecht legendäre Jahre. Mit Schmalz und Melodrama und Pathos. Schon im ersten Spider-Man-Heft schrieb Stan Lee: „With great power comes great responsibility“, und danach ging es nur noch aufwärts.

Stan Lee verdiente als Executive viel Geld und stand gerne im Rampenlicht, andere Künstler behandelte der Verlag („The House of Ideas“, im Vergleich zur „Distinguished Competition“ von DC) stiefmütterlich biss schlecht; zwischen Kirby und Lee und Ditko und Lee gab es Streit. („Funky Flashman“ mit seinem „Houseroy“ war danach eine Kirby-Parodie auf Lee im Mister-Miracle-Universum, Google-Bildersuche.) Manche Fans mochten ihn nicht, unterstellten auch, die anderen Künstler seien die eigentlich Produktiven gewesen. Aber die letztlich doch immer etwas enttäuschenden Hefte von Ditko ohne Lee, von Kirby ohne Lee zeigen, dass sein Beitrag als Erzähler nötig war, um Geschichten und das Marvel-Universum zu erschaffen. Die Auftritte im Marvel Cinematic Universe bezauberten dann auch wieder viele verstimmte Fans.

Die Rolle, die Stan Lees Marvel-Comics in meiner Entwicklung spielen, ist groß. Toleranz, Nicht-Aufgeben, Umgang mit Niederschlägen, Verantwortung, Verlust. Avengers 32 und 33 mit den rassistischen Söhnen der Schlange. Pulphaft versunkene Reiche in Avengers 34 oder Fantastic Four 54. „This Man – This Monster“ in FF 51. Amazing Spider-Man 33, in dem Spider-Man sich fünf Seiten lang aus einem eingestürzten Labor hervorarbeitet. Hachz.
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