Klassisches Vorgehen
Im Referendariat habe ich das Einführen neuer Vokabeln in der Unterstufe und sicher auch in Teilen der Mittelstufe so gelernt:
- Die Lehrkraft sucht sich die neuen Vokabeln, die in dieser Stunde drankommen, aus der Liste hinten im Buch heraus.
- Die meisten davon werden vor der Beschäftigung mit den Schulbuchseiten “entlastet”, den Schülern und Schülerinnen vorgestellt.
- Das heißt: Die Lehrkraft erklärt die Vokabel, oder verwendet sie in einem Beispielsatz, lässt sie vielleicht auch gleich von einem Schüler oder einer Schülerin in einem Satz verwenden, und schreibt die Vokabel an die Tafel. So hat man dann eine Liste der meisten neuen Vokabeln vorne stehen. (Wie dieses Einführen der Vokabeln am besten geht: eigenes Thema.)
- Dann beschäftigt man sich mit den Buchseiten. Meist war das ein längerer Fließtext oder auch nicht-linearer, weil der vor allem die neuen Vokabeln enthielt, will heißen: keine Grammatikübung.
- Hausaufgabe war dann das Lernen dieser neuen Vokabeln, die in der Stunde darauf überprüft wurde.
Das fällt mir so immer schwerer. Für meine letzte siebte Klasse, Schuljahr 2019/20, angefangen also vor den Covid-19-Schulschließungen hatte ich mir eigens einen Stoffverteilungsplan gemacht und stieß dabei schon früh auf Schwierigkeiten.
Meine Probleme
Das Englischbuch enthält 658 neue Vokabeln. Das Schuljahr hat maximal 34 Wochen, tatsächlich oft noch weniger. Der Lehrplan ist so oder so ausgerichtet für 28 Wochen, also theoretisch; der Rest, so denn einer bleibt, ist für Üben, Vertiefen und Prüfungen gedacht. Das heißt, pro Woche gibt es 23,5 Vokabeln zu lernen, im Schnitt.
Wieso sind es ausgerechnet 658 neue Vokabeln? Gibt es da irgendwelche Richtlinien? Wahrscheinlich schon, aber keine öffentlichen; vielleicht in KMK-Bildungsstandards versteckt. Im Lehrplan steht nichts zur Anzahl von Vokabeln. In der vorletzten Lehrplangeneration (neunjähriges Gymnasium) standen solche Angaben noch drin:
- 5. Jahrgangsstufe: 800 Vokabeln
- 6. Jahrgangsstufe: 700 Vokabeln
- 7. Jahrgangsstufe: 500 Vokabeln
Das heißt, die 658 Vokabeln klingen erst einmal nicht völlig aus der Luft gegriffen. Früher gab es übrigens eine Unterscheidung zwischen fett gedruckten, zu lernenden Vokabeln und anderen, die nur fürs Verständnis erklärt waren, aber nicht gelernt werden mussten: Diese Unterscheidung gibt es nicht mehr.
Die Schüler und Schülerinnen haben 4 Stunden Englisch pro Woche. Da an meiner Schule weitgehend in Doppelstunden unterrichtet wird, sind das zwei Termine mit jeweils 12 aufs nächste Mal zu lernenden Vokabeln. Dazu kommen noch andere, insbesondere schriftlichere Hausaufgaben. Das scheint dennoch grundsätzlich machbar.
Nur: Dieses Siebtklass-Englischbuch hat 5 “Units”, Großkapitel, mit 7 kleineren angehängten Kleinkapiteln. Alle enthalten sie neue Vokabeln. Es gibt 14 Grammatik-Abschnitte, G1 bis G14. Davon befinden sich knapp die Hälfte, G1-G6, in Unit 1. Und auch sonst ist Verteilung der Grammatikabschnitte ähnlich ungeschickt.
Es gibt mehrere mitgelieferte Stoffverteilungsvorschläge des Verlags. Der Verlag geht immerhin von Unterrichtsausfall durch Fahrten und Prüfungen aus und kommt so auf 31 Wochen, auf die das Buch zu verteilen ist. Die erste Woche sind dabei die ersten 5 Seiten des Buchs – mit 49 Vokabeln. Soll ich also in dieser Woche 49 Vokabeln zu lernen aufgeben? Zusätzlich zum neuen Grammatikstoff, dem Reflexiv- und Reziprokpronomen.
Mögliche Konsequenzen 1 (klassisches Vorgehen)
Option 1: Ich benutze ganz klassisch die Vokabeln als Taktgeber, pro Woche etwa 24 Stück. Dann kommt die Klasse gut durch das Jahr – andererseits kann man sich dann mit manchen Seiten und Inhalten nur wieselflink beschäftigen, und wenn man mehr Zeit gebraucht hätte, ist das Pech. Das könnte funktionieren, wenn das Buch entsprechend aufgebaut wäre. Ist es nicht.
Option 2: Ich benutze die Inhalte als Taktgeber, so viel Zeit wie für einen Text oder ein grammatisches Phänomen nötig ist. Dann gibt es halt manchmal keine Vokabeln zu lernen (völlig in Ordnung), manchmal 60 in der Woche (schwierig).
Mögliche Konsequenzen 2 (alternatives Vorgehen)
Option 3: Ein Teil der Vokabeln wird als unwichtig ignoriert. Manche Vokabeln sind ja auch weniger wichtig als andere. Es ist erstens auch schön, unwichtige Vokabeln zu kennen, und zweitens ohnehin unmöglich für Schüler und Schülerinnen, die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig zu treffen. Die Lehrkraft kann das auch schlecht für jede einzelne Vokabel kommunizieren. Und vor allem verlässt sich traditionell die Lehrkraft im Folgejahr darauf, dass die Schüler und Schülerinnen ausreichend Gelegenheit hatten, alle Vokabeln im Buch zu lernen. Nur dann fühlt man sich rechtlich sicher, diese Vokabeln in Prüfungen auch einzufordern oder vorauszusetzen. Das ist auch dem Kultusministerium wichtig: Bei den zentralen, bayernweiten, benoteten Jahrgangsstufenarbeiten haben wir – zumindest als ich noch in der Arbeitsgruppe war, die diese Prüfungen entworfen hat – für jedes einzelne englische Wort im Sechstklasstest überprüft, ob das auch wirklich in beiden verbreiteten Lehrwerken der fünften Jahrgangsstufe als Lernvokabel vorkommt. Wenn nicht, dann durften wir das nicht verwenden.
Option 4: Asynchrones Arbeiten. Das war letztlich das, für das ich mich in meiner siebten Klasse entschieden habe: Pro Woche etwa 24 Vokabeln, und so viel Zeit für Texte und Grammatik wie halt nötig. Das führt allerdings dazu, dass manchmal Vokabeln gelernt werden, die erst in späteren Stunden in Texten auftauchen werden, und manchmal Texte gelesen werden, ohne dass die neuen Vokabeln darin vorentlastet wurden. Zu meiner Referendarszeit wäre das ein ganz großer didaktischer Fehler gewesen, macht die schönen Beispielsätze und Rückversicherungen und rasche Zeichnungen überflüssig, mit denen die Vokabeln eingeführt wurden. Denn es macht ja viel weniger Sinn, das so zu machen, wenn diese Vokabeln den Rest der Stunde über überhaupt keine Rolle spielen.
Im zweiten Halbjahr kam dann eh Corona, da lief alles asynchron und selbstständiger und ohne Fahrten und Unterrichtsausfall. Und das ging auch. Mit oder ohne Distanzunterricht: Das Vorgehen heißt, dass die Schüler udn Schülerinnen Vokabeln alleine lernen, mit dem Buch. Die Bücher enthalten übrigens auch Beispielsätze, Zeichnungen, Merkhilfen; das sind nicht nur Vokabellisten.
Mögliche Konsequenzen 3 (Neugewichtung von Vokabellernen)
Option 5: Wenn das Kultusministerium in seinen Jahrgangsstufenarbeiten, wenn die Lehrkräfte in den Folgejahren sich nicht mehr darauf verlassen könnten und müssten, dass alle Vokabeln des Vorjahres gemacht worden sind, dann könnte man sich bei Vokabeln und Grammatikarbeiten mehr Zeit lassen. Es würde dann wahrscheinlich weniger Vokabellernaufgaben geben. (Die ich an sich schätze, und bitte: Stupides Auswendiglernen ist das schon lange nicht mehr, wer damit als Kritik am Vokabellernen anfängt, hat keine Ahnung.) Im Lehrplan würde dann stehen, dass die Schülerinnen und Schüler sich zu bestimmten Themen äußern können sollen; die Schulbücher würden Vokabeln dazu anbieten; und die Lehrkräfte würden dafür sorgen, dass in dafür ausreichendem Maß Vokabeln gelernt werden. Theoretisch würde sich vielleicht gar nichts ändern.
Das hieße aber, dass die Schüler und Schülerinnen zum Beispiel zweiten oder dritten Lernjahr einen Text von angemessenem Schwierigkeitsgrad vorgesetzt bekommen und dass man erwarten müsste, dass sie ihn verstehen, auch wenn für die einen die einen, für andere andere Wörter nicht bekannt sind. Außerdem würde man erwarten, dass Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Themen oder in bestimmten Situationen über ausreichend Vokabeln verfügen, um sich dazu äußern zu können, auch wenn die einen dann eher die einen, die anderen andere Wörter verwenden.
Beides halte ich am Gymnasium in Bayern für machbar, aber ich bin mir nicht sicher. Es ist ja konkret ohnehin auch deshalb machbar, weil die Schülerinnen und Schüler einen viel größeren Wortschatz haben, auch schon in Unter- und Mittelstufe, als das Schulbuch vorsieht: Das liegt an außerschulischen Quellen für den Spracherwerb. Und die soll man ja theoretisch ignorieren und nur prüfen, was in der Schule gelernt werden konnte, aber das ist natürlich Unsinn.
Bin ich alleine mit diesen Problemen? Was sagt denn die ernsthafte Didaktiktheorie zum Vokabellernen?
Als Fußnote weitere Wünsche für Vokabeln im Schulbuch:
- In Grammatikteilen grundsätzlich keine Vokabeln.
- Nur so viel neue Pflichtvokabeln pro Text, wie in 1 oder 2 Stunden machbar. Dazu scheint mir die Unterscheidung in Lern- und andere Vokabeln sinnvoll, aber was weiß ich.
- In der Liste Vokabeln zu einem Text nach Themen gruppiert und nicht streng chronologisch.
- Überhaupt Vokabeln mehr thematisch gruppieren, notfalls auch Vokabeln, die eben nicht im aktuellen Text steht: Wieso in einem Text “pork” und “beef” lernen, aber “meat” erst in einem späteren Text? Wieso “Französisch”, “Franzose”, aber nicht gleich: “Frankreich”? Warum “get on the bus” als Lernvokabel, aber nicht gleich “get off the bus” mit?
- Noch mehr kontrastives Vorgehen bei den Vokabeln: “To declare” mit Beispielsatz als “erklären” übersetzt, da muss man doch auf “to explain” eingehen. “To drive” als “fahren”, ohne zu erklären, was man mit diesem Wort fahren kann (Auto, Ochsenkarren) und was nicht (Fahrrad)
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