Wenn ich manche Foren lese, glaube ich fast, der liebste Wunsch, den man einem anderen – etwa anlässlich eines Geburtstags – angedeihen lassen kann, ist: „Bleib so, wie du bist, und lass dich von niemandem ändern.“
Zum ersten Mal ist mir das bei Schülern aufgefallen, aber das liegt vielleicht daran, dass ich überproportional viel mit denen zu tun habe und weniger mit Erwachsenen. Bei denen bin ich allerdings nach einer kurzen Google-Suche genauso fündig geworden. Eine Auswahl, ohne Quellenangaben:
Motto: Sei du selbst und lass dich von niemandem ändern!
Lebensmotto: Bleib wie du bist und lass dich von niemandem ändern.
Ich finde es unfair, jemanden verbiegen zu wollen und ihn nicht so zu nehmen, wie er ist.
bleib so wie du jeZz bist okay und lass dich von NIEMANDEN ändern
Vielleicht ist das tatsächlich unter Jugendlichen häufiger. Die müssen sich vermutlich auch am meisten mit den Änderungswünschen anderer auseinandersetzen. Das Weltbild dahinter scheint zu sagen, dass man entweder a) mit einem unveränderlichen Ich geboren wird, das niemand ändern kann, oder b) dass der Vorgang des Sich-Änderns eine selbstbestimtme, bewusste, von anderen unabhängige Entscheidung ist.
Das ist meiner Meinung so nicht richtig. Man ändert sich doch vor allem durch äußere Einflüsse. Einige meiner Wesenszüge kenne ich an mir seit fünfunddreißig Jahren, das ist wahr. Aber manche habe ich erst durch andere Menschen erworben, die mich beeinflusst und geprägt haben.
Warum ich glaube, dass das für die Schule wichtig ist: Viele Leute wünschen sich, dass die Schule nur Wissen und Fertigkeiten vermitteln soll, und zwar nur insoweit, als man damit im späteren Leben mehr Geld verdienen kann.
Halten die Leuten, die das so sehen, denn Werte, Verhaltensweisen, ästhetische Bildung für unwichtig? Das glaube ich nicht. Allerdings meint man wohl, für die kann man selber sorgen, da soll einem keiner reinreden. Die lernt man nicht, für die entscheidet man sich. Alles andere stellt einen unberechtigten Eingriff in die Persönlichkeitsautonomie dar.
Vielleicht sehe ich das auch nur so, weil Leute ändern nun mal mein Beruf ist. Lernen heißt sich ändern. Was heißt dann Lehren?
Nicht untergebrachte Gedanken:
1. Das soll nicht heißen, dass man sich von allem und jedem ändern lässt. Aber die Änderung durch äußere Einflüsse sollte man prinzipiell zulassen.
2. Das Teilreflexive des Verbs „sich ändern“ bereitet mir Schwierigkeiten: „jemand ändert sich“ (traditionelle Grammatik: „echt reflexiv“) ist oberflächlich dem „jemand ändert mich“ („unecht reflexiv“) ähnlich. Beim englischen „I’ve changed“ bleibt offen, wodurch die Änderung stattgefunden hat; beim deutschen „ich habe mich geändert“ scheint die die betroffene Person die Änderung aktiver gestaltet zu haben. Siehe vielleicht auch Medium (Grammatik). Ändert man sich oder wird man geändert?
3. Ich bin nicht ganz zufrieden mit dem Blogeintrag, finde ihn zu durcheinander und zu unpräzise, vielleicht, weil ich zu viel daran herumgeschraubt habe. Ich habe das Gefühl, dass es da eine Frage gibt, die es wert ist, gründlicher durchdacht und erörtert zu werden. Da steckt noch ein besserer Blogeintrag drin, den ich auch gerne anderswo lesen würde, bei jemandem mit besseren analytischen Fähigkeiten als ich.
4. Mal machen: Fürs Erörtern mal hernehmen die zwei Keuner-Geschichten „Das Wiedersehen“ und „Wenn Herr K. einen Menschen liebte“ von Bert Brecht.
Nachtrag 2019: Wenn ich mich an die Lernpsychologie aus der Uni richtig erinnere (zweifelhaft), ist eine Definition von Lernen die der Möglichkeit, sich anders zu verhalten als vor dem Lernen. Eine neue Verhaltens- oder Handlungsmöglichkeit ist im Repertoire. Lernen heißt also Veränderung.
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