Alle zehn Jahre darf man sich doch im Blog wiederholen, oder? Anlässlich eines Gesprächs auf Twitter vor ein paar Tagen ist wohl Zeit für eine Ergänzung meines Blogeintrags von 2008, „Bleib so wie du bist“.
Ja, ich will Ihre Kinder ändern! Oder jedenfalls sie begleiten, wenn sie sich ohnehin ändern, und die Änderung lenken, soweit das in meiner Macht steht, in Babyschritten. Das muss ich sogar, das ist mein Auftrag und meine Dienstpflicht und steht so in der (bayerischen) Verfassung.
(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.
(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.
(3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.
(4) Die Mädchen und Buben sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.
Art. 131 der Verfassung des Freistaats Bayern
Meine Gesprächspartnerin fühlte sich durch meine Aussage, dass Schulen auch Erziehungsziele habe, getriggert (ihre Worte), aber ähnlich steht das sicher in anderen Bundesländern auch in den Verfassungen und Lehrplänen. Manche Eltern wehren sich vielleicht gegen den Gedanken, dass die Schule irgendetwas mitzuerziehen hätte. Aber wie es heißt: It takes a village… bei der Erziehung eines Kindes spielen viele Faktoren mit. Medien, Peergroup, Schule – die Hauptrolle haben sicher die Eltern, aber eben nicht nur die.
Laut dieser Allensbach-Umfrage von 2009 (pdf) ist zwar besonders wichtig, dass Schule „Gute Beherrschung von Rechtschreibung und Grammatik“ vermittelt (88%), aber immerhin soll sie auch „Hilfsbereitschaft, Rücksicht auf andere“ vermitteln (66%) sowie Pünktlichkeit (62%), „Höflichkeit und gute Manieren“ (52%). Das ist doch Erziehung, oder? Und wenn jemand vorher unhöflich war und danach höflich, dann ist das Veränderung – wie umgekehrt natürlich auch.
Besonders spannend finde ich die 2. Jako-O-Bildungsstudie von 2012 „Eltern beurteilen Schule in Deutschland!“, über deren Qualität ich nichts sagen kann und über die ich 2012 schon mal geschrieben habe. Damals war noch die Frage „Zuständigkeit für die Verwirklichung von Bildungszielen“ im Programm – in den Folgestudien 2014 und 2017 war sie vielleicht nicht mehr opportun, jedenfalls fehlt sie, deshalb hier das Ergebnis von 2012:

Gut die Hälfte meint, dass für Pünktlichkeit und Manieren hauptsächlich die Eltern zuständig sind; der Rest sieht das als Aufgabe von Schule und Eltern gleichermaßen an. Und das ist richtig so; Erziehung ist eine Aufgabe von mindestens Eltern und Schule – in guter Zusammenarbeit. Dass allein die Schule für etwas zuständig sein soll, spielt in der Umfrage allenfalls bei „Fachwissen“ eine Rolle, und auch da sehen 39% das als Aufgabe von Eltern und Schule. (Wenn das Elternhaus so eine große Rolle spielt, ist das mit der Bildungsgerechtigkeit natürlich schwierig, aber das ist ein anderes Thema.)
Meine Gesprächspartnerin nahm keinesfalls in Anspruch, in irgendeiner Form repräsentativ zu sein mit ihrer Irritation bezüglich des Erziehungsauftrags der Schule, führte diese aber auf ihre DDR-Sozialisierung zurück. Insofern interessiert mich das schon, ob es da Unterschiede bei den Bundesländern gibt, und ob sich die Ansichten in den letzten sieben Jahren geändert hat.
Was das alles mit Ändern zu tun hat: Erziehen heißt ändern. Lernen heißt per Definition ändern: „Lernen besteht also im Erwerb von Dispositionen, d.h. von Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten.“ Lernen ist „Bildung von Erfahrungen, die in der Zukunft neue Aktivitäten beeinflussen. Die ist das wesentlichste Merkmal des Lernens.“ (Edelmann, Lernpsychologie, noch vom Studium.) Lernen heißt nicht, dass man sich danach anders verhält, aber aber das man sich danach anders verhalten kann. Man kann auch nicht nicht lernen, ebenso wenig, wie man sich nicht verändern kann – man kann nur das Falsche lernen, aus Sicht der Gesellschaft und Medizin. Die Frage, was richtiges und falsches und gesundes und krankes Verhalten ist, ist natürlich wiederum kompliziert. Und die Frage, wie man die menschliche Veränderung, das menschliche Lernen begleitet oder lenkt, wie man jungen Menschen beim Lernen, also beim Verändern, hilft und ob das gelingt: ein anderes Thema.
Man mag vielleicht einwenden, das sei ein sehr wörtlich Verständnis von Änderung, und das sei ja gar nicht gemeint. Aber ich glaube, dass es eine Veränderung bewirken kann, wenn man ein Konzentrationslager besucht oder wenn man im Biologieunterricht am sächsischen Gymnasium „Merkmale von europiden, negriden und mongoliden Menschen“ durchnimmt (Lehrplan Sachsen noch im Jahr 2017). Gleichzeitig stimmt natürlich, dass man bei aller Veränderung selbst das Gefühl von Kontinuität hat; und man würde nie sagen „Mensch, du hast dich aber verändert“, nur wenn jemand das Klavierspielern erlernt hat. Ändern heißt nicht, dass sich alles ändert.
Ja, und dann ist da noch die Realität. Wie sehr sieht sich Schule, wie sehr sehen sich Lehrer und Lehrerinnen als herzens- und charakterbildend, wie sehr im Auftrag der Wissensvermittlung? Wie viel Erziehung gelingt an der Schule unter den gegebenen Bedingungen, wie viel ist nötig? Ich weiß es nicht, aber manche Phrasen in den Lehrplänen scheinen mir schon recht hohl zu sein.
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