Josef Einwanger, Toni Goldwascher

(10 Kommentare.)

Ich war auf der Suche nach Lektüren für verschiedene Jahrgangsstufen und stieß wieder einmal auf die Vorschläge des ISB – über Google. Denn über die ISB-Webseite dorthin zu kommen, ist illusorisch. Für jede Jahrgangsstufe (Gymnasium, Deutsch) gibt es eine eigene PDF-Datei, jeweils tief versteckt (von mir aus: verwurzelt) in den Anhängen zum jeweiligen Jahr. Hier ist die Seite, über die man zu den Lektüreempfehlungen für Jahrgangsstufe 7 kommt, traut sich jemand zu, die für die Jahrgangsstufe 8 zu finden, sofern einem die Suchmaschine nicht den Deeplink spendet?

Die Inhalte sind aber gar nicht so schlecht, und vor allem sind die meisten Bücher gleich mit Besprechungen auf der ISB-Seite Portal #lesen.bayern (das #gehört dazu) verlinkt. Whisper habe ich mal gelesen und gebloggt, würde ich nicht empfehlen, die Schatzinsel ist toll, Iwein Löwenritter so mittel, Krabat empfehle ich, anderes klingt interessant. Jahrgangsstufe 8 empfiehlt gute Sachen (Tschick, Romeo und Julia, als Außenseiter den Brandner Kasper, Das Herz eines Boxers, dazu ein schon nicht mehr lieferbares Sachbuch über Fake News) neben Schauderhaftem (keine namentliche Erwähnung).

Irgend jemand, – war es der arg vermisste Kollege Z? – wies mich mal auf Toni Goldwascher (1993) von Josef Einwanger hin, das ich bei den Empfehlungen für die 5. jahrgangsstufe fand. An meiner alten Schule hing nämlich eine Weile ein Plakat dazu, entweder zur Verfilmung (2007), oder gab es eine örtliche Theaterfassung davon? Beworben wird es mal als bayerischer Tom Sawyer, mal wird Huck Finn herangezogen; ich wollte es deshalb lesen, als ich das Buch bei den ISB-Lektüreempfehlungen fand. („Jgst. 4 bis 5“, „, „in Auszügen geeignet“, Gattungen: „Kinder-Kriminalliteratur, Thriller (Horror, Gruselliteratur)“ und „Heimat- und Dialektliteratur“.)

Die Karte am Anfang war vielversprechend. Karten gehören zu Tom Sawyer, und überhaupt in Bücher, und in Jugendbücher ganz besonders. Die folgende stammt aus einem wissenschaftliche Sachbuch über die Jugend von Kindern, in dem Kapitel ging es um den Spiel- und Erfahrungsraum um die elterliche Wohnstätte herum in verschiedenen Jahrzehnten Ich fand die Karte immer sehr schön:

Illustration aus: Roger Hart, Children’s Experience of Place (1978), entnommen der Webseite zur Episode „The Secret Life of Daytime“ der Radio-Reihe This American Life, Act III „The Geography of Childhood“, heruntergeladen vor 2002, als auf der Webseite noch ein paar Fotos und Abbildungen aus dem Buch waren. Inzwischen habe ich das Buch als pdf, aber die Illustration ist noch das Original-gif, das ich damals archiviert habe.

Das Buch gibt es wohl in zwei Fassungen, der ursprünglichen und einer – erweiterten? bearbeiteten? – anlässlich der Verfilmung. Ich verstehe, wie man auf Tom Sawyer und Huck Finn kommt, ganz unabhängig von der Vermarktungsstrategie. Es geht um einen großen Fluss, den Inn, ein Floß, naive und zugleich verbissene Kinder. Erwachsene spielen da wie dort eine große Rolle, aber nur als Nebenfiguren. #lesen.bayern schreibt:

Die Geschichte gibt das Leben von Kindern nach dem Krieg auf dem Land detailgetreu wieder und zeigt zugleich, wie die Kinder versuchen, das Leben ihrer gefallenen Väter fortzusetzen. Dennoch oder gerade deshalb sollte die Geschichte nicht für sich alleine, sondern in Verbindung mit dem historischen Hintergrund gelesen werden.

Nur von einem Vater, dem der Hauptperson, heißt es, dass er aus dem Krieg nicht zurückgekommen ist, aber es gibt ein Waisenhaus auf dem Dorf. Ob sie das Leben der Väter weiterführen, da bin ich mir nicht sicher. Sie versuchen jedenfalls noch nicht, bewusst in deren Fußstapfen zu treten oder sich erwachsen zu verhalten. Ist damit Streit und Gewalt gemeint? Das mt der Fortsetzung des Lebens ihrer gefallenen Väter finde ich als Deutung interessant, ich bin mir aber nicht sicher, dass das haltbar ist.

Der Klappentext schreibt:

spannend und detailgetreu wird hier eine Kindheit in den fünfziger Jahren erzählt

Spannend ist das durchaus, die Überflutung am Ende kann ich mir gut als Vorlage für Erzählen in der Schule vorstellen. Aber detailgetreu finde ich das Buch nicht besonders, oder sagen wir: nicht besonders detailliert. Dass es in den 1950er Jahren spielt, entnehmen ich nur mit Mühe dem Text. Die modernste Technik ist ein Fahrrad und beim Pfarrer im Haus ein Telefon. Es gibt einen Schmied im Dorf und Pferde, aber keinerlei Landmaschinen oder Autos werden erwähnt. Es gibt kein Radio, kein Fernsehen (verständlicher), keine Filme, keine Fußballvereine, kein Ausland, keine Magazine. Eine Zeitung gibt es, in der Stadt. Das könnte ebenso zur Zeit von Ludwig Thomas Lausbubengeschichten spielen wie im St. Petersburg von Tom Sawyer. Gegessen werden Brote mit Schmalz, Marmelade, Hering und Zwiebeln, Geräuchertes; sonst wird keine Speise erwähnt. Einmal taucht ein Herd auf, holzbefeuert natürlich. Hat sich wirklich so wenig geändert auf dem allerdings wirklich sehr kleinen Dorf zwischen 1860 und 1950?

Im ersten Band der The-Great-Brain-Reihe von John D. Fitzgerald, der Ende des 19. Jahrhunderts spielt, allerdings in einer Kleinstadt, erfahre ich: wie man Eis gelagert hat, wie man Speiseeis gemacht hat, wie eine Toilette damals funktioniert und wie sie installiert wird, welche Spiele die Kinder damals spielten. Gut, in Toni Goldwascher gibt es einen wiederkehrenden, extrem simplen Streich, den die Kinder dem Schmied spielen; einen wiederkehrenden Spottvers; und das „Pickeln“, eine Art Boccia oder Boule mit geworfenen, improvisierten Speeren, die in der Erde stecken bleiben müssen – das klang dann doch authentisch. Aber sonst ist die Spiel- und Erfahrungswelt der Kinder recht leer. War das am Ende wirklich so?

Wenn ich da an Bembes macht sich selbstständig denke: ein Buch aus der Münchner Vorstadt, wo zugegeben mehr los gewesen sein wird. Es spielt zeitlich ein paar Jahrzehnte vor Toni Goldwascher. Da erfahre ich die Namen von Süßigkeiten, von echten Orten in München, von Spielen, von Bräuchen, von Geräten, von Insekten (ja, vier Libellenarten tauchen in Toni Goldwascher auch auf). Das Buch ist ungemein detailreicher als Toni Goldwascher, der Erzähler-Tonfall viel näher am Kind, Dialekt ist auch mehr darin. Aber gut, dass die Erzähldistanz größer ist, ist halt eine andere Entscheidung, und der Mangel an Details kommt vielleicht nur mir so vor – oder ist dem Unterschied Stadt-Land geschuldet.

Auf jeden Fall lesbar mit einer 5. Klasse. Die Verfilmung gibt es gerade und noch für die nächsten drei Wochen in der Mediathek.

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Kommentare

10 Antworten zu „Josef Einwanger, Toni Goldwascher“

  1. Sabine

    Soll ich es mal meiner Mutter ans Herz legen, die in den 1950ern viel Zeit in Lenggries auf einem Bauernhof verbracht hat? Alle ihre sehr lebendigen Schilderungen hören sich so an, als habe man sich dort in einer erstaunlich vormodernen Zeit befunden. Vielleicht kann sie die Authentizität des Buches angemessen einschätzen?

  2. Mach mal! Ich werde meinen Vater fragen, auf dem Dorf aufgewachsen, wenn auch mit 800 Einwohnern größer als in diesem Buch, was der von der Welt drumrum mitgekriegt hat. Flugzeuge muss man doch immerhin kennen und von ihnen fasziniert sein? Heimatvertriebene, Kriegsflüchtlinge, Munitionsreste mussten doch eine Rolle spielen?

  3. Matthias

    „traut sich jemand zu, die für die Jahrgangsstufe 8 zu finden, sofern einem die Suchmaschine nicht den Deeplink spendet?“
    Fand ich jetzt keine Herausforderung, ist im Fachlehrplan genau dort, wo ich es vermutete: Lernbereich 2.2, Zusatzmaterialien

  4. Na gut, Matthias, das war übertrieben. Aber du kennst dich ja auch aus, andererseits. Wie schön einfach ist das im Vergleich dazu bei den auslaufenden Jahrgangsstufen, da gibt es eine Seite, da sind sie alle, alle versammelt:
    https://www.isb.bayern.de/schularten/gymnasium/faecher/deutsch/lektuerevorschlaege/
    Das finde ich praktisch. Ich würde mir nämlich gerne auch die für 5, 6, und 10 herunterladen, habe bisher aber das Geklicke gescheut.

  5. Pony flott

    „Toni Goldwascher“ glaub ich eher nicht empfohlen zu haben, weil auch nie gelesen. Deine Schilderungen zur zeitlichen Verortung sind aber schon passend. Im Oberland gab es in den Fünfzigern tatsächlich kaum Landmaschinen, weil ab Ende der Dreißiger die Produktion auf Rüstungsgüter umgestellt wurde und Maschinen für die kleinen Bauern, zudem überwiegend ja Milchwirtschaftsbetriebe, viel zu teuer waren. Die Mechanisierung kleinerer Betriebe („Bulldog“) begann erst nach dem Krieg und sehr langsam. Autos gab’s auch nahezu nicht. Mein Großvater posierte Anfang der Vierziger stolz auf dem Motorrad seines Bruders, der der einzige seiner Generation war, der sich Motorisierung leisten konnte. Das Motorrad verschwand nach dem Krieg aus Angst vor Konfiskation durch die Amerikaner für Jahrzehnte auf dem Dachboden, wurde erst vor zehn Jahren von meinem Großcousin restauriert und fährt bis heute. Fußball wird ebenfalls erst ganz allmählich zur Heldensaga (1954). Das Thema Vaterlosigkeit wird in zahlreichen erfolgreichen Kinder- Und Jugendbüchern thematisiert (z.B. in „Die Brigg Drei Lilien“), so betrachtet passt das also schon.

  6. Susann

    Meint Vater ist knapp nach dem Krieg geboren, auf einem relativ großen Bauernhof. Es gab einen Holzherd, das war wohl Standard und galt als sinnvoll, weil bei den Bauern ja auch Holz anfiel und kein Brennstoff gekauft werden musste). Gegessen wurde auch nicht anders als im 19. Jh., alles eher karg und eintönig, zugekauft wurde nicht viel. Es gab in den 50er-Jahren einen Traktor, den mein Vater als großes Novum empfand, wahrscheinlich hatten kleinere Bauernhöfe die noch nicht. In der Erzählwelt meines Vaters ist diese Lebenswelt aber absolut geprägt von der Technik der Moderne und vom Krieg, sein Vater war in Kriegsgefangenschaft und kam dann als schwerkranker Mann nach Hause, einer seiner Onkel war gefallen, die Besatzungssoldaten und ihre Autos und Waffen kommen vor. In der Freizeit suchten die Jungs nach Munitionsresten in bombenbeschädigten Häusern. Mein Schwiegervater war gegen Kriegsende ein Kind in einem wesentlich kleineren Dorf, in seinen Erzählungen ist es ähnlich: der Krieg und die damit verbundene Technik sind absolut präsent (zumal die Front mal kurz über den Grund der Familie verlief, inkl. Laufgraben. Das fand keiner toll.). Das Alltagsleben aber war, zumal in den Nachkriegsjahren, auch nicht anders als um 1900 oder davor. Viel schwere körperliche Arbeit, kaum Hilfen dabei, primitive Lebensverhältnisse.

  7. Danke für den Einblick, Susann. Das wird es sein, dass sich einerseits nicht viel verändert hat seit 1900. Aber Krieg und Technik (Flugzeuge, gerade im Krieg!) kannte man doch. Oder verschwand das Wissen darum und Interesse daran wieder? Spielen „die Amis“ keine Rolle in der Gedankenwelt auf dem (kleinen) Dorf? Ich werde auch mal meinen Vater befragen.

  8. Susann

    Mir ist noch etwas eingefallen – meine Großmutter, geboren knapp vor Ende des 1. Weltkrieg, hat auch als alte Frau noch erzählt, wie aufregend es für sie und ihre Geschwister gewesen war, wenn sie in den 20er Jahren ein Flugzeug am Himmel entdeckten.
    Für meinen Vater waren die „Amis“ (und die DDT-Wolken, in die sie alle hüllten, die in ihre Zone wechseln wollten) stets präsent, aber er lebte in der Nähe einer Besatzungszonengrenze. Wer in einem kleinem Ort irgendwo abgelegen wohnte, hatte sicherlich weniger Kontakte.

    Alles in allem eine sehr interessante Frage, vielen Dank für die Anregung, darüber nachzudenken.

  9. CR

    „traut sich jemand zu, die für die Jahrgangsstufe 8 zu finden?“

    –> in der URL die letzte Ziffer von 3 auf 5 ändern, bringt dich zur 8. Jgst.

    analog dazu
    –> letzte Ziffer eine 1 –> 6. Jgst.

  10. Das ist der rechte Geist des Forschens! (Ernsthaft, danke fürs Finden.) Für andere Jahrgangsstufen muss man dann aber andere Ziffern ändern; es bleibt schwierig.

    There, I fixed it:

    Jahrgangsstufe 5 (pdf)
    Jahrgangsstufe 6 (pdf)
    Jahrgangsstufe 7 (pdf)
    Jahrgangsstufe 8 (pdf)
    Jahrgangsstufe 9 (pdf)
    Jahrgangsstufe 10 (pdf)
    Jahrgangsstufe 11 (pdf)

    Warum nicht einfach so?

    Klar, das geht nicht, weil die ISB-Deeplinks sich jederzeit ändern können und das auch immer wieder tun. Dennoch, mich interessieren die Lektüren allgemein, und selbst wenn es um eine konkrete Klasse geht, will ich natürlich auch die fürs Jahr davor oder danach empfohlenen Lektüren einsehen.

    Die Materialebene zum Lehrplan schön und gut, so habe ich auch angefangen, mein Material auf der Festplatte zu ordnen, nach Jahrgangsstufen sortiert. Aber das ist zwanzig Jahre her. Inzwischen sortiere ich das meiste nach Themen, weil sich Themen ja auch über alle Jahrgangsstufen (und Lehrpläne) hin wiederholen. So würde mich die Materialeben zum Informieren für Klasse 8 schon bereits in Klasse 7 interessieren. Es wäre also schön, wenn es von mir aus neben der hierarchischen Ebene auch eine Schlagwortebene über Jahrgangsstufengrenzen gäbe.

    (Gut, man kann sich dort wohl Seiten bookmarken. Dafür bin ich nun wieder zu alt. Mir ist’s schwer recht zu machen.)

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