Ich war auf der Suche nach Lektüren für verschiedene Jahrgangsstufen und stieß wieder einmal auf die Vorschläge des ISB – über Google. Denn über die ISB-Webseite dorthin zu kommen, ist illusorisch. Für jede Jahrgangsstufe (Gymnasium, Deutsch) gibt es eine eigene PDF-Datei, jeweils tief versteckt (von mir aus: verwurzelt) in den Anhängen zum jeweiligen Jahr. Hier ist die Seite, über die man zu den Lektüreempfehlungen für Jahrgangsstufe 7 kommt, traut sich jemand zu, die für die Jahrgangsstufe 8 zu finden, sofern einem die Suchmaschine nicht den Deeplink spendet?
Die Inhalte sind aber gar nicht so schlecht, und vor allem sind die meisten Bücher gleich mit Besprechungen auf der ISB-Seite Portal #lesen.bayern (das #gehört dazu) verlinkt. Whisper habe ich mal gelesen und gebloggt, würde ich nicht empfehlen, die Schatzinsel ist toll, Iwein Löwenritter so mittel, Krabat empfehle ich, anderes klingt interessant. Jahrgangsstufe 8 empfiehlt gute Sachen (Tschick, Romeo und Julia, als Außenseiter den Brandner Kasper, Das Herz eines Boxers, dazu ein schon nicht mehr lieferbares Sachbuch über Fake News) neben Schauderhaftem (keine namentliche Erwähnung).
Irgend jemand, – war es der arg vermisste Kollege Z? – wies mich mal auf Toni Goldwascher (1993) von Josef Einwanger hin, das ich bei den Empfehlungen für die 5. jahrgangsstufe fand. An meiner alten Schule hing nämlich eine Weile ein Plakat dazu, entweder zur Verfilmung (2007), oder gab es eine örtliche Theaterfassung davon? Beworben wird es mal als bayerischer Tom Sawyer, mal wird Huck Finn herangezogen; ich wollte es deshalb lesen, als ich das Buch bei den ISB-Lektüreempfehlungen fand. („Jgst. 4 bis 5“, „, „in Auszügen geeignet“, Gattungen: „Kinder-Kriminalliteratur, Thriller (Horror, Gruselliteratur)“ und „Heimat- und Dialektliteratur“.)

Die Karte am Anfang war vielversprechend. Karten gehören zu Tom Sawyer, und überhaupt in Bücher, und in Jugendbücher ganz besonders. Die folgende stammt aus einem wissenschaftliche Sachbuch über die Jugend von Kindern, in dem Kapitel ging es um den Spiel- und Erfahrungsraum um die elterliche Wohnstätte herum in verschiedenen Jahrzehnten Ich fand die Karte immer sehr schön:

Illustration aus: Roger Hart, Children’s Experience of Place (1978), entnommen der Webseite zur Episode „The Secret Life of Daytime“ der Radio-Reihe This American Life, Act III „The Geography of Childhood“, heruntergeladen vor 2002, als auf der Webseite noch ein paar Fotos und Abbildungen aus dem Buch waren. Inzwischen habe ich das Buch als pdf, aber die Illustration ist noch das Original-gif, das ich damals archiviert habe.
Das Buch gibt es wohl in zwei Fassungen, der ursprünglichen und einer – erweiterten? bearbeiteten? – anlässlich der Verfilmung. Ich verstehe, wie man auf Tom Sawyer und Huck Finn kommt, ganz unabhängig von der Vermarktungsstrategie. Es geht um einen großen Fluss, den Inn, ein Floß, naive und zugleich verbissene Kinder. Erwachsene spielen da wie dort eine große Rolle, aber nur als Nebenfiguren. #lesen.bayern schreibt:
Die Geschichte gibt das Leben von Kindern nach dem Krieg auf dem Land detailgetreu wieder und zeigt zugleich, wie die Kinder versuchen, das Leben ihrer gefallenen Väter fortzusetzen. Dennoch oder gerade deshalb sollte die Geschichte nicht für sich alleine, sondern in Verbindung mit dem historischen Hintergrund gelesen werden.
Nur von einem Vater, dem der Hauptperson, heißt es, dass er aus dem Krieg nicht zurückgekommen ist, aber es gibt ein Waisenhaus auf dem Dorf. Ob sie das Leben der Väter weiterführen, da bin ich mir nicht sicher. Sie versuchen jedenfalls noch nicht, bewusst in deren Fußstapfen zu treten oder sich erwachsen zu verhalten. Ist damit Streit und Gewalt gemeint? Das mt der Fortsetzung des Lebens ihrer gefallenen Väter finde ich als Deutung interessant, ich bin mir aber nicht sicher, dass das haltbar ist.
Der Klappentext schreibt:
spannend und detailgetreu wird hier eine Kindheit in den fünfziger Jahren erzählt
Spannend ist das durchaus, die Überflutung am Ende kann ich mir gut als Vorlage für Erzählen in der Schule vorstellen. Aber detailgetreu finde ich das Buch nicht besonders, oder sagen wir: nicht besonders detailliert. Dass es in den 1950er Jahren spielt, entnehmen ich nur mit Mühe dem Text. Die modernste Technik ist ein Fahrrad und beim Pfarrer im Haus ein Telefon. Es gibt einen Schmied im Dorf und Pferde, aber keinerlei Landmaschinen oder Autos werden erwähnt. Es gibt kein Radio, kein Fernsehen (verständlicher), keine Filme, keine Fußballvereine, kein Ausland, keine Magazine. Eine Zeitung gibt es, in der Stadt. Das könnte ebenso zur Zeit von Ludwig Thomas Lausbubengeschichten spielen wie im St. Petersburg von Tom Sawyer. Gegessen werden Brote mit Schmalz, Marmelade, Hering und Zwiebeln, Geräuchertes; sonst wird keine Speise erwähnt. Einmal taucht ein Herd auf, holzbefeuert natürlich. Hat sich wirklich so wenig geändert auf dem allerdings wirklich sehr kleinen Dorf zwischen 1860 und 1950?
Im ersten Band der The-Great-Brain-Reihe von John D. Fitzgerald, der Ende des 19. Jahrhunderts spielt, allerdings in einer Kleinstadt, erfahre ich: wie man Eis gelagert hat, wie man Speiseeis gemacht hat, wie eine Toilette damals funktioniert und wie sie installiert wird, welche Spiele die Kinder damals spielten. Gut, in Toni Goldwascher gibt es einen wiederkehrenden, extrem simplen Streich, den die Kinder dem Schmied spielen; einen wiederkehrenden Spottvers; und das „Pickeln“, eine Art Boccia oder Boule mit geworfenen, improvisierten Speeren, die in der Erde stecken bleiben müssen – das klang dann doch authentisch. Aber sonst ist die Spiel- und Erfahrungswelt der Kinder recht leer. War das am Ende wirklich so?
Wenn ich da an Bembes macht sich selbstständig denke: ein Buch aus der Münchner Vorstadt, wo zugegeben mehr los gewesen sein wird. Es spielt zeitlich ein paar Jahrzehnte vor Toni Goldwascher. Da erfahre ich die Namen von Süßigkeiten, von echten Orten in München, von Spielen, von Bräuchen, von Geräten, von Insekten (ja, vier Libellenarten tauchen in Toni Goldwascher auch auf). Das Buch ist ungemein detailreicher als Toni Goldwascher, der Erzähler-Tonfall viel näher am Kind, Dialekt ist auch mehr darin. Aber gut, dass die Erzähldistanz größer ist, ist halt eine andere Entscheidung, und der Mangel an Details kommt vielleicht nur mir so vor – oder ist dem Unterschied Stadt-Land geschuldet.
Auf jeden Fall lesbar mit einer 5. Klasse. Die Verfilmung gibt es gerade und noch für die nächsten drei Wochen in der Mediathek.
Siehe auch:
- Mark Twain, The Adventures of Tom Sawyer (wie, 2023 gelesen und nicht verbloggt?)
- John D. Fitzgerald, The Great Brain
- Rudyard Kipling, Stalky & Co
- Otto Ehrhart, Bembes macht sich selbständig
- Laurie Lee, Cider With Rosie
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