
Nachdem ich das Buch im Dezember kurz erwähnt hatte, habe ich inzwischen mit meiner 9. Klasse verhandelt, so dass es jetzt unsere Klassenlektüre ist. Dagegen spricht der Preis, das Buch gibt es bisher nur gebunden. Aber ich halte es für eine sehr geeignete Lektüre. Zuerst einmal deshalb, weil das Lesen Spaß macht. In der 8. Klasse lesen Schüler häufig das „Fräulein von Scuderi“, das ich selber sehr mäßig interessant finde. In der 9. Klasse liest man einen dünnen Dürrenmatt-Roman oder eine Novelle von Gottfried Keller, „Kleider machen Leute“ etwa. Keller finde ich heute sehr lustig, als Schüler hat er mich gelangweilt, und wenn ich auch glaube, dass eine Keller-Lektüre sinnvoll sein kann – ein richtiges Lesevergnügen bietet sie kaum einem Schüler.
Anders Tschick, der macht wenigstens manchen Spaß. Aber Spaß reicht ja nicht, das Buch soll auch noch gut sein. „Geschmacksbildung“ gehört zu unserem Bildungsauftrag. Und drittens muss man Etwas Machen mit der Schullektüre. Das muss nicht das gefürchtete Zu-Tode-Analysieren sein, aber irgendetwas schon. Und damit habe ich häufig Probleme, weil mir zu wenig einfällt. Aufbau einer Novelle, tektonisches Drama, das geht noch. Am leichtesten fallen mir Vergleiche mit anderen Werken, aber genau das geht in der Schule nicht ohne Weiteres, da die Schüler keine solchen anderen Werke kennen.
Bei Tschick hatte ich das Glück, das Anfang dieser Woche ein Interview von Kathrin Passig mit Wolfgang Herrndorf bei FAZ Online erschienen ist, das mir viel Arbeit abgenommen hat.
Erst mal habe ich etwas zu Kathrin Passig erzählt und dabei gleich das Lexikon des Unwissens an einen Schüler ausgeliehen. Dann ging es um die Wörter im Interview, die die Schüler nicht oder nicht alle kennen: Rezensent, Rezension, Päderast (komplett mit Exkurs in die griechische Antike), Protagonist, Genre.
Herrndorf/Passig erwähnen Motive aus Huckleberry Finn, Der Fänger im Roggen und Herr der Fliegen – was Neuntklässlern noch wenig sagt. Also spricht man auch kurz darüber, und – Unterrichtsidee 1 – erfreulicherweise haben sich für die ersten drei Romane Freiwillige gefunden, die sie lesen werden und in einer Art literarischem Quartett vorstellen werden. (Jeweils vier Leute und ein Buch, Gesprächsrunde vor der Klasse.)
Was ist noch alles drin im Interview? Die Beobachtung, dass die Jugendsprache im Roman kaum durch Vokabular, sondern durch Satzbau dargestellt wird. Meine Schüler meldeten gleich Zweifel an dieser Aussage an. Es stimmt jedenfalls, dass sich Tschick bei hipper Jugendsprache zurückhält – schon mal, weil die so schnell veraltet. Jedenfalls wunderbar, Jugendsprache macht man eh in der 9. Klasse, haben wir gleich etwas, das wir uns anschauen können. Unterrichtsidee 2. Und sei es nur, folgende alphabetische Liste von Wörtern in die chronologisch richtige Reihenfolge zu bringen:
abgefahren, dufte, irre, klasse, prima, Spitze, toll, Wahnsinn
Die Wörter stammen aus den Präambeln zu den Kapiteln in Thommie Bayer, Das Herz ist eine miese Gegend. Zu ergänzen noch: super, knorke und geil.
Sehr nett ist auch die folgende Interviewfrage: „Versetzen wir uns ins Jahr 2030. Ihr Buch ist seit zehn Jahren Schullektüre. Neuntklässler stöhnen, wenn sie den Namen Wolfgang Herrndorf hören. Welche Fragen zum Buch müssen in Aufsätzen beantwortet werden?“ (Sehr nett deshalb, weil Passig uns natürlich mit der 9. Klasse genau trifft. Aber den Schülern fiel gleich auf, dass da doch eigentlich 2020 stehen müsste. Ich habe ihnen erklärt, dass es wohl noch zehn Jahre dauert, bis sich das Buch als Lektüre durchsetzt, schon mal, weil man noch auf die Taschenbuchausgabe wartet.) Die Antwort übrigens: „Ich fürchte, man wird sich im Deutschunterricht am Symbolträchtigen aufhängen, an der Schlussszene…“ Da hat man gleich Unterrichtsidee 3.
Was ist noch alles drin? Kommentare zum Literaturbetrieb, dazu, wie Erfolgsromane entstehen. Interessiert die Schüler auch. Aber als Unterrichtsidee 4 macht man natürlich die Heldenreise. Und das kommt so:
Herrndorf beantwortet eine Frage Passigs nach einem Element des Romans damit, dass das so schön zum Konzept der Heldenreise passte. Das Konzept hat der Mythenforscher Joseph Campbell (The Hero with a Thousand Faces) erfunden oder popularisiert, weiß nicht genau was. Strukturalismus, für Mythen und Sagenkreise ein bisschen das, was Vladimir Propp für die Morphologie des Märchens gemacht hat. Tut mir leid, das name-dropping muss sein, weil der Kollege S. meinen Campbell heute mit binären Oppositionen bei Lévi-Strauss übertrumpft hat. Solche Kollegen haben wir. Habe ihn gleich zu einem W-Seminar aufgefordert.
Ähem. Zurück zur Heldenreise.
Nach Campbell und Wikipedia laufen Geschichten um mythische (Kultur-)Helden nach folgendem Muster ab:
- Ruf: Erfahrung eines Mangels oder plötzliches Erscheinen einer Aufgabe.
- Weigerung: Der Held zögert, dem Ruf zu folgen, beispielsweise, weil es gilt, Sicherheiten aufzugeben.
- Aufbruch: Er überwindet sein Zögern und macht sich auf die Reise.
- Auftreten von Problemen, die als Prüfungen interpretiert werden können.
- Übernatürliche Hilfe: Der Held trifft unerwartet auf einen oder mehrere Mentoren.
- Die erste Schwelle: Schwere Prüfungen, Kampf mit dem Drachen etc., der sich als Kampf gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen kann.
- Fortschreitende Probleme und Prüfungen, übernatürliche Hilfe.
- Initiation und Transformation des Helden: Empfang oder Raub eines Elixiers oder Schatzes, der die Welt des Alltags, aus der der Held aufgebrochen ist, retten könnte. Dieser Schatz kann in einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen äußerlichen Gegenstand symbolisiert wird.
- Verweigerung der Rückkehr: Der Held zögert in die Welt des Alltags zurückzukehren.
- Verlassen der Unterwelt: Der Held wird durch innere Beweggründe oder äußeren Zwang zur Rückkehr bewegt, die sich in einem magischen Flug oder durch Flucht vor negativen Kräften vollzieht.
- Rückkehr: Der Held überschreitet die Schwelle zur Alltagswelt, aus der er ursprünglich aufgebrochen war. Er trifft auf Unglauben oder Unverständnis, und muss das auf der Heldenreise Gefundene oder Errungene in das Alltagsleben integrieren. (Im Märchen: Das Gold, das plötzlich zur Asche wird.)
- Herr der zwei Welten: Der Heros vereint Alltagsleben mit seinem neugefundenen Wissen, und lässt somit die Gesellschaft an seiner Entdeckung teilhaben.
Die zwei Helden, die ich am besten kenne, sind Gilgamesch und Odysseus, und ja, da kann man schon Parallelen finden. Aber bei Tschick? Ist eine schöne Aufgabe für Schüler, auch schon in der 9. Klasse, denke ich. Wer’s lieber eine Nummer kleiner hat, kann sich ja auf das Genre des Road Movie beschränken.
Interessant ist auch, und das wusste ich nicht, dass es eine Fassung der Heldenreise-Stationen gibt, die Drehbuchautoren als Vorlage dienen soll. (Auch Wikipedia.) Einige Schüler untersuchen gerade, ob sie dafür Beispiele finden. Star Wars wird in Wikipedia selber genannt.
Mal sehen, was die Tschick-Lektüre noch alles bringt.
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