Von Holzfällern und Monstern

(10 Kommentare.)

Kryptozoologie

Das ist die Pseudowissenschaft von den sagenhaften Lebewesen. Ein Kryptid ist ein unwahrscheinliches Wesen, dass es nach dieser Wissenschaft gegeben könnte, das aber nach Lehrmeinung als erfunden gilt (und das natürlich auch ist): Das Monster von Loch Ness, Bigfoot, Yeti, der Mothman, und noch viele weitere. Es gibt Leute, die glauben das ernsthaft.

Fußnote: Büchlein meiner frühen Jugend

Carey Miller, Frankensteins Gruselkabinett von A-Z. Schneider 1977. (A Dictionary of Monsters and Mysterious Beasts, Pan 1974)

Das Buch ist wie für mich gemacht: Alphabetisch geordnet, kurze Texte, an der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Gekauft in der vierten oder fünften Klasse bei Schreibwaren Laschke in der Hofackerstraße. Was man daraus alles lernen konnte, ohne das mitzukriegen: Garuda, Ganescha, Grendel, Hanuman, Kappa, Sasquatch. Die meisten dieser Figuren sind mythologische Sagengestalten, der Sasquatch ist ein moderner Kryptid.

Pseudo-Kryptozoologie

So nenne ich das, wenn man nur so tut, als würde man Pseudowissenschaft betreiben. Scherzhafte Pseudowissenschaft also. Ein bisschen gehört auch Giraffes? Giraffes! dazu (Blogeintrag), ein Sachbuch über Giraffen, das voller Unwahrheiten über Giraffen ist. Aber es gibt auch Bücher über Kryptiden, die das nicht so ernst nehmen – Lügengeschichten, letztlich. Dazu später, erst ein Exkurs zu Holzfällern.

Holzfällereien

Ich in skandinavischer Holzfällerhose und ebensolchem Hemd aus den 1950er Jahren. (Die Weste ist neu.)

Die jungen Leute verbinden wahrscheinlich gar nichts mehr mit Holzfällern. Wir Alten kennen wenigstens noch das Lied von Monty Python, aber auch das war ja bereits Parodie. Vor hundertzwanzig Jahren in Nordamerika war das anders: Da waren Holzfäller noch ganz unironisch die starken Männer, lebten in einsamen Camps, und fällten mächtige Koniferen mit ihren Äxten. O. Henry hat über sie geschrieben, Jack London, immer wieder begegnet man ihnen in der Literatur.

Ein legendärer solcher Holzfäller ist Paul Bunyan. Legendär, weil es ihn nie gegeben hat, er ist riesengroß und riesenstark, hat alle Werkzeuge erfunden, die man beim Holzfällen braucht, und einen enormen Appetit. Geschichten um ihn sind Lügengeschichten wie die um Münchhausen. Und wie bei diesem ist auch die Publikationsgeschichte schwierig, sehr früh schon wurde Paul Bunyan ein Werbemaskottchen, und laut Wikipedia wird debattiert, wie viel echte Folklore überhaupt hinter den meisten Bunyan-Geschichten steckt.

Fearsome Creatures

Das war eigentlich der Kern dieses Blogeintrags, das, was ich als Pseudo-Kryptozoologie bezeichnet habe, was man auch fantasy field guide nennen kann. 1910 erschien zum ersten Mal ein Buch mit diesem Titel: Fearsome Creatures of the Lumberwoods von William T. Cox. Die Lumberwoods sind die Wälder, in denen Bäume gefällt werden, um Bauholz (lumber) aus ihnen zu sägen. Das Wort finde ich allerdings nur im Zusammenhang mit den legendären creatures oder critters, die sich dort herumtreiben sollen, es ist also vielleicht kein neutrales Wort für irgendwelche Wälder, sondern impliziert gleich, dass es dort eben ungeheuerliche Gestalten gibt. Und diese Gestalten zählen Cox und seine Nachfolger auf, basierend auf echten folk tales, sehr ähnlich den Lügengeschichten um Paul Bunyan, aber zusammengehalten durch die Klammer eines Bestiariums.

Da gibt es den Gillygaloo, einen Vogel, der würfelförmige Eier legt, weiß mit schwarzen Flecken, die man fürs Glücksspiel verwenden kann.

Da ist das Tier mit dem zum Lasso umgeformten Schnabel, und das andere, das Zähne verschießen kann wie Patronenkugeln.

Der Wapaloosie ist ein eigentlich völlig harmloses, aber sehr kletterfreudiges Tierchen. Handschuhe, aus dem Fell des Wapaloosies gemacht, beginnen zu klettern, wenn sie eine Holzstange oder einen Baum berühren. (Das klingt nach einer Lügengeschichte, wie sie auch bei Münchhausen stehen könnte, da wird viel mit Wolfspelzen gearbeitet. Aber lebendige Handschuhe habe ich dort keine gefunden.) Zu einem großen Unglück kommt es in einer Fassung, als aus dem Fell auch eine Reihe von Schals hergestellt wird, mit denen die örtliche Birdwatcher’s Fellowship Society in den Wald geht.

Da ist die hochgiftige Reifen-Schlange, die ihren eigenen Schwanz in den Mund nimmt und in dieser radförmigen Form mit hoher Geschwindigkeit ihre Opfer verfolgt. Wenn ihre Zähne das Opfer verfehlen und etwa in Holz schlagen, schwillt dieses als Folge des starken Gifts enorm an. In einer modernen Fassung wird solches Holz weiterverwendet und zu Zahnstochern geschnitzt, was natürlich eine Katastrophe nach sich zieht.

Die Geschichten sind immer wieder modernisiert und neugeschrieben worden. Hier sind die Fassungen, die ich kenne:

  • William T. Cox: Fearsome Creatures of the Lumberwoods, With a Few Desert and Mountain Beasts (1910)
  • Lake Shore Kearney: The Hodag and Other Tales of the Logging Camps (1928) – hier immerhin online lesbar (Seitenzahlen wie in der Originalausgabe), sonst nirgendwo zu finden und nur antiquarisch für 250 Dollar und mehr in der ursprünglichen, wohl einzigen Ausgabe. Die Bayerische Staatsbibliothek hat kein Exemplar, aber in Göttingen soll es eines geben.
  • Henry H. Tryon: Fearsome Critters (1939)
  • Hal Johnson: Fearsome Creatures of the Lumberwoods (2017)

Keines dieser Bücher ist je auf Deutsch übersetzt worden, soweit ich weiß. Johnson macht sich im Nachwort selber darüber lustig, dass all die Vorläuferbücher nicht im Druck und schwer aufzufinden sind.

Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Fearsome_critters

Illustration von Coert DuBois
(aus Cox, Fearsome Creartures)

Exkurs: Erzählsituation

Tryon beschreibt in seinem Vorwort, wie zwei erfahrene Waldarbeiter – Sam und Walter – einem jüngeren, der im Wald ein Geräusch gehört hat, einen Bären aufbinden:

This lad opened the way by remarking that on the trail back to camp that after noon he had heard an extraordinary, screech-like cry which he could not identify. Given this opening, the team-play developed between the two older men was simply marvellous . “How did it go?” inquired Sam, full of seeming fatherly interest. “Oh, I don’t think I could imitate it,” replied the lad. A moment’s pause. “Reckon it was one o’ them tree-squeaks,” put in Walter at the precise psychological moment; “they’re common hereabouts in July.” “What’s a tree-squeak like?” asked the victim, deliberately putting his foot in the trap. “Wa-al–” drawled Sam, and the game was on. It was like watching two highly skilled bridge players. Sam would lead with a colorful bit of description, and Walter would follow suit with an arresting spot of personal experience, every detail being set forth with the utmost solemnity, and with exactly the correct degree of emphasis.

Henry H. Tryon: Fearsome Critters

Das erinnert mich an die Scherz-Aufträge, mit denen man Lehrlinge hereinzulegen pflegte, Lufthaken holen und so weiter. Ich hatte schon befürchtet, dass die niemand sammelt, bevor sie verloren gehen, aber Wikipedia to the rescue: Wikipedia:Humorarchiv/Liste der Ausbildungsinitiationsriten. („Diese Seite gehört zum Humorarchiv der deutschsprachigen Wikipedia.“)

Exkurs: Hunt the Wumpus

Ein frühes, sehr einflussreiches Computerspiel von Gregory Yob, 1972 in BASIC programmiert, ist „Hunt the Wumpus“ (Wikipedia und ein ausführlicher englischsprachiger Blogeintrag). Zu den frühestens fearsome creatures gehört bereits die Wampus Cat (Wikipedia). Kommt da der Name her?

Exkurs: Jackalope

In dieser Podcast-Episode kann man viel über dieses Tier erfahren: https://99percentinvisible.org/episode/tale-of-the-jackalope/ Seit den 1930er Jahren werden aus Scherz und für Touristen ausgestopfte Jackalopes hergestellt, indem man Gabelbockhörner auf Hasenkörper verpflanzt. Siehe nächsten Abschnitt.

Hiesige Entsprechungen

Der Wolpertinger fällt einem natürlich ein, oder die Nixe aus Goethes Fischer, oder der Rasselbock, dessen Spuren ich im Harz gefunden habe:

Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Elwetritsch

Gravity Falls

Die Episoden der Cartoon-Serie Gravity Falls spielen in Oregon im Nordwesten der USA, in waldiger, einsamer Gegend, wo sich merkwürdige und unheimliche Vorkommnisse häufen. (Das ist der Staat südlich von Washington, wo Twin Peaks spielt – dunkle und unheimliche Wälder jeweils, Kleinstädte mit schrägen Typen.) Besonders der junge Dipper versucht, die Vorkommnisse zu erforschen. In diesem Kurzbeitrag zur Serie taucht einer der Holzfäller in einer Nebenrolle auf, aber vor allem ist Dipper auf der Suche nach dem Hide-Behind, einem Kryptiden, der unglaublich schwer zu finden ist, weil er sich immer dann genau hinter etwas oder hinter einem selber versteckt, wenn man sich nach ihm umdreht:

(Link: https://youtu.be/mJJgybKQyT8)

Der Hide-Behind ist eine klassische fearsome creature, auch wenn er noch nicht bei Cox 1910 dabei ist, sondern erst bei Kearney 1928.

Silver John

In den Geschichten von Manly Wade Wellman zieht sein Serienheld Silver John mit einer Gitarre durch die Appalachen und trifft unheimliche Gestalten, unter anderem auch den Behinder, eine Hidebehind-Variante.

Einsatz in der Schule

Man ist ja auch Bildungsblog. So ein Bestiarium scheint mir eine schöne Idee, Beschreibungen mit Erzählung zu kombinieren. Das Kultusministerium steht auf solche Kombinationen, unsinnigerweise. Eine schildernde Erzählung, wie man die Jagd plant und beginnt, oder sich anschleicht, oder der Spur folgt; davor oder danach eine – dann wohl: sachlichere Beschreibung als Lexikoneintrag. Mit Zeichnung dazu. Und das Bestiarum gibt einen Rahmen, der die Aufsätze der SchülerInnen verbindet.


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10 Antworten zu „Von Holzfällern und Monstern“

  1. Sabine

    Zum Thema Lumberjack solltest du der Vollständigkeit halber „Timber Joey“ kennen, das aktuelle Maskottchen der Fußballmannschaft Portland Timbers. Das ist ein hünenhafter Lumberjack (sind sie das nicht immer?), der im Stadion neben einem ebenso riesigen Redwoodstamm steht, über dem die Fanschals hängen. Schießen die Timbers ein Tor, zückt er seine Kettensäge, lässt sie heulen und schneidet eine Scheibe vom Redwood ab, die dann beschriftet und dem Torjäger vermacht wird.

    Für deine Zwecke ist der natürlich zu echt, aber wenn du mal eine HV-Schulaufgabe für die 8. Klasse brauchst… In der waren dann die Buben signifikant besser als die Mädchen, wohl weil fast alle Buben darin Fußballer sind.

  2. Canzonett

    Katherine Rundell stellt „Impossible Creatures“, dem Auftaktband ihres neuen Fantasy-Großprojekts, ein Bestiarium voran (und hat mit The Golden Mole zu in Jahr zuvor etwas Verwandtes im Sachbuchbereich publiziert).

  3. Danke für die Ergänzungen, sie sind beide entzückend.

    Timber Joey wird von einem echten Joe gespielt, lese ich gerade, der Vorläufer Timber Jim von einem echten Jim. Und ja, an Hörverstehen wäre ich interessiert zu dem Thema, wenn sich da etwas machen ließe… aber vorerst fürs Archiv halt. Dennoch, für die Jungs eine gute Idee, und könnte mich inspirieren.

    Katherine Rundell ist an mir vorbeigegangen, aber Impossible Creatures sieht gut aus und The Golden Mole noch mehr. Ich mag es, an Verschwindendes oder Verschwundenes erinnert zu werden, auch wenn es meist traurig ist.

  4. Natascha

    Ich weiss nicht, ob das wirklich hineinpasst – aber eine der liebenswertesten Kreaturen dieser Art scheint mir das Heffalump in Winnie the Pooh zu sein (für den Anglisten daher vielleicht verzeihlich?)
    Herzliche Grüße
    Natascha

  5. Aber ja, den Heffalump nehmen wir noch dazu!

  6. […] Herr Rau zu Von Holzfällern und Monstern […]

  7. Aginor

    Die Reifenschlange muss ich mal in einem D&D Abenteuer als Monster bringen.

    Apropos D&D: Einige Folkloremonster (Kryptiden wie andere Fabelwesen) haben es in der einen oder anderen Form in die Monsterhandbücher von Tabeltop-RPGs wie DSA oder D&D geschafft. Finde ich ganz interessant, wenn sowas passiert. Vor allem weil man dann in Diskussionen merkt, wie unterschiedlich bei verschiedenen Spielern die Wahrnehmung dieser Wesen ist, je nach regionaler Abwandlung der Folklore.

    Nur die Dichotomie ist mir nicht ganz klar: Wo hört Kryptid auf und wo fängt Fabelwesen an? Dropbears oder Elwetritschen z.B., oder eben auch der Wolpertinger.

    Gruß
    Aginor

  8. Dropbears sind ganz an mir vorbeigegangen, habe mich jetzt informiert. Vielleicht muss man trennen zwischen Fabelwesen (als erfunden präsentiert), Scherzkryptid (als echt präsentiert, aber scherzhaft – Dropbear, Elwetritsch, Wolpertinger) und Kryptid (von einer ausreichenden Zahl geglaubt). Aber ich weiß zu wenig über die Kryptidenszene.

    Testfälle: Das Einhorn war vielleicht mal ein Kryptid, ist aber jetzt Fabelwesen.
    Gibt es auch Kryptid-Mikroorganismen? Midi-Chlorianer? Schlacke zum Entschlacken? Oder ist das Pseudowissenschaft und Esoterik und wieder ein anderes Gebiet?

  9. Aginor

    Ich denke das ist ein guter Ansatz.

    Zum Einhorn würde ich zustimmen.

    Zu den Mikroorganismen: Ich kenne keine. Midichlorianer sind zu offensichtlich nur Star Wars.

    Entschlacken ist ein gutes Stichwort, da steigt bei mir sofort der Blutdruck. Wenn wir doch nur die ganzen Pseudowissenschaften loswerden könnten (Homöopathie, Heilsteine, Lichtfasten und ähnlichen Unsinn), damit wäre schon viel geholfen. Und ja, die Kryptiden grenzen da an, vermutlich gibt es sogar Überlappungen.

    Ein weiterer spannender Fall für mich sind Chupacabras. Die würde ich zu den Kryptiden zählen, weil genügend Leute daran glauben „dass da irgendetwas ist“, ein bisschen wie bei den Aliens der Ufogläubigen. Die sind ja Kryptiden aus dem All, gewissermaßen.
    ….hmmm was ist dann eigentlich mit Echsenmenschen aus dem Erdinneren? Schwierige Fragen…

    Gruß
    Aginor

  10. […] immer wieder davon, und weil mir ein Freund die Reihe empfohlen hat und ich mich ja eh gerade für Holzfällereitum interesserte, las ich das erste Buch, das eben nicht in der Prärie oder Kleinstadt spielt, sondern […]

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