Seit vielen Jahren bin ich mit der Textsorte Erörterung in der Schule unzufrieden. Steht hier was dazu,, und hier noch mehr. Die Theorie zu dieser Textsorte – die kenne ich nicht. Nie gelernt, mich auch nie weitergebildet. Ich kenne auch keinen, der dazu gesicherte Informationen hat und nicht nur Alltagserfahrung… vielleicht mal bei Wikipedia schauen.
…uh, nein. Heißt die Erörterung irgendwo tatsächlich noch „Besinnungsaufsatz“? Ich dachte, das Wort vermeidet man seit den 1970ern. Davor trieb man in der Mittelstufe Erörterung, und den Besinnungsaufsatz in der Oberstufe; heute gibt es nur noch die Erörterung. Sag ich mal nichts dazu. (Siehe Dietrich Wolf und Dorothea Klotz, Von der Erörterung zum Reifeprüfungsaufsatz. 3000 Aufsatzthemen, Frankfurt am Main 1966, in altem Blogeintrag mal beschrieben.) Und was da über die textgebundene Erörterung steht, gilt in Bayern nicht.
Auch sonst sind keine Links zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Erörterung da, schade. Da gibt es sicher Untersuchungen, wenn auch keine Fortbildungen.
Nachdem ich mich also nie wissenschaftlich mit der Erörterung beschäftigt habe, hier mein Bauchgefühl, was die Schüler daran lernen sollen: Sie sollen lernen, a) gute Argumente zu erkennen und zu verwenden, b) Argumente auch erfolgreich zu versprachlichen und c) dass die Dinge manchmal kompliziert sind. Ist die Erörterung das beste Mittel, diese drei Ziele zu erreichen? Meine Intuition sagt: nein. Werden diese drei Ziele denn erreicht? Sagen wir mal so: Im bayerischen Abitur war die reine Erörterung kein besonders beliebtes Thema.
Dass die Dinge manchmal kompliziert sind, lässt sich am ehesten in der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen erfahren; in der Praxis der Erörterung führt das eher dazu, dass man schreibt, was man nicht glaubt, weil es der Lehrer so will.
Wie man Argumente versprachlicht, lernen die Schüler zu oft an Hand einer Reihe von Floskeln, die sie zu verwenden haben, und brav verwenden, gerade bei den Überleitungen. „Am wichtigsten ist jedoch“, „Ganz besonders wichtig ist aber“.
Und was ein gutes Argument ist – dazu sollte man erst mal lernen, was ein non sequitur ist, ein ad hominem, ein argumentum ad verecundiam. Im G9 habe ich das auch noch ein bisschen gemacht, Schopenhauers Eristische Dialektik gelesen.
Aber gut, soll sein, soll sein. Ich kenne ein paar Deutsch-Kolleginnen und -Kollegen, die das anders sehen, die schwören auf die Erörterung. (Und raten den meisten Schülern davon ab, im Abitur diese Aufgabensorte zu wählen.)
Immerhin gibt es seit ein paar Jahren Alternativen zur Erörterung, im Lehrplan und im Abitur. Schüler und Lehrer werden erst langsam warm damit, aus Gründen, zugegeben. Während im letzten Lehrplan des G9 noch von Aufsatzarten die Rede war („Erörterung“), geht es im aktuellen Lehrplan um Fertigkeiten („erörtern, begründen“). Und die kann man in verschiedenen Textsorten demonstrieren. Außerdem gibt es „informierendes“ Schreiben. Das führt zu einer Vielzahl neuer, mehr oder weniger geglückter Aufsatzvarianten: Rede, Vorwort zu Ausstellungskatalog, Theaterprogramm, Lexikoneintrag, und eben auch Kommentar und Essay.
Was auch immer man unter einem Essay versteht und wie auch immer man ihn benotet.
Im Moment übe ich Essays mit der 11. Jahrgangsstufe. Die Schülerinnen und Schüler sind erleichert, dass sie etwas schreiben dürfen, dass nicht krampfhaft antithetisch-dialektisch-synthetisierend sein muss. Ohne das Korsett des Arguments mit Behauptung-Begründung-Beispiel. Tatsächlich mal schreiben dürfen, was man will. Ohne die – gefühlte, hoffentlich nie bewusst durch Lehrer vermittelte – Notwendigkeit, geschwollen daherzureden, Fremdwörter zu benutzen, lange Sätze zu machen. Ich habe mit den Schülerinnen ein paar Essays angeschaut und wir haben verglichen, was ihnen aus der Erörterung bekannt vorkommt und was so in der Erörterung nicht stehen dürfte. Zu letzterem zählten lauter einfache, klar, deutliche Aussagen, über die ich mich so in in jeder Erörterung freuen würde.
Allerdings haben die Schüler auch gleich gemerkt, dass das Schreiben ohne starres Gerüst schwieriger wird. Also lesen wir jetzt gemeinsam Essays und Kommentare; ich glaube, dass man am besten am Vorbild lernt. Bei der Erörterung geht das ja nicht, weil es die in freier Wildbahn nicht gibt, weil sie dort auch nicht überleben könnte, öde wie sie ist.
Das Lesen von Essays macht den Schülern Spaß. Ich habe nur noch nicht genug Beispiele – die meisten Essays, die ich kenne und schätze, habe ich nur im englischen Original. Hat jemand Vorschläge? Der ideale Beispielessay für die Schule ist kurz, sprachlich und gedanklich originell, demonstriert weder noch verlangt zu viel Hintergrundwissen. Blogeinträge zählen auch.
Essayvorschläge, zu ergänzen:
- Heinrich von Kleist, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“
Gut, aber als Aufsatz-Vorbild schwierig, da man so etwas nur schreiben kann, wenn man sich bereits viel Gedanken zum Thema gemacht hat - Charles Lamb, „A Dissertation Upon Roast Pig“
Schon besser, da Allerweltsthema. Beim Lesen bekam ich richtig lustig darauf, Schweinebraten zuzubereiten. Deutsche Übersetzung ist in der Post.
Ich habe schon ein paar mal in diesem Blog ein kleines Buch von Birgit Lahann erwähnt, Abitur. Von Duckmäusern und Rebellen – 150 Jahre Zeitgeschichte in Aufsätzen prominenter Deutscher (1982). Neben viel Kommentar, Zusammenfassung, Beschreibung enthält der Band viele – zu wenige – zumindest teilweise wiedergegebene Abituraufsätze. Keiner davon sieht aus wie eine moderne Erörterung. Als Essay würden sie alle durchgehen, auch in den Fällen, in denen es um Literaturiterpretationen geht- sie enthalten rhetorische Mittel und durchgehend ein sehr deutlich sich positionierendes Ich. Dieses „ich“ treiben wir den Schülern in der Erörterung aus.
Ich hätte jedenfalls gerne mehr solcher Essays-Besinnungsaufsätze als Erörterung. Kann man dabei die Dinge, die man an der Erörterung lernen soll, besser lernen als mit der Erörterung? Oder andere, wichtigere Dinge? Wenn nicht, dann ist die Erörterung wichtiger, keine Frage.
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