Oder sie sorgen zumindest dafür, dass man welche in die Hand gedrückt kriegt. Der Wahlkurs Kreatives Schreiben vom Kollegen Z. hat Erzählungen in Kladden begonnen, die in der Stadtbibliothek ausleihbar sind. Jeder Ausleiher kann und soll die Geschichte weiterschreiben.
Ich habe gerade Kapitel zwei geschrieben und das Buch zurückgegeben. (Eine wilde Science-Fiction-Geschichte, die sich Richtung Philip K. Dick entwickeln könnte, aber nicht muss.)
Mich hat das aus nicht wirklich wichtigen Gründen erinnert an einen Text von Kurt Tucholsky in Das Lächeln der Mona Lisa von 1926:
GRUSS NACH VORN
Lieber Leser 1985 – !
Durch irgendeinen Zufall kramst du in der Bibliothek, findest die Mona Lisa, stutzt und liest. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen: du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem damaligen sehr absticht, auch dein Gehirn trägst du ganz anders… Ich setze dreimal an: jedesmal mit einem andern Thema, man muß doch in Berührung kommen… jedesmal muß ich es wieder aufgeben ‑ wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bißchen über den Zeitpegel … da, ich wußte es: du lächelst mich aus.
Alles an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben und meine Grammatik und meine Haltung … ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gerne. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie es gewesen ist … nichts. Du lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus der Vergangenheit, und du weißt alles besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Zeitdorf bewegt? Genf? Shaw‑Premiere? Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf alles, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.
Soll ich dir Schmeicheleien sagen? Ich kann es nicht. Selbstverständlich habt ihr die Frage: “Völkerbund oder Paneuropa?” nicht gelöst; Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt ihr fürs tägliche Leben dreihundert nichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid ihr genau so dumm, genau so klug, genau so wie wir. Was von uns ist geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, in dem, was du in der Schule gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, daß es hinüberkam; was wirklich groß ist, davon ungefähr die Hälfte, und um die kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagmittag ein bißchen, im Museum. Es ist so, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden sollte. «Ja? geht’s gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hat es wohl sehr gezogen…?» und was man so sagt.
Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir beide verstehen uns schon, denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich “Bismarck” sage und du dich erst erinnern mußt, wer das gewesen ist, grinse ich schon heute vor mich hin: du kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Unsterblichkeit sind… Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt frühstücken gehen wollen.
Guten Tag. Dies Papier ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unserer Landrichter, da, jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern… nun, es ist auch schon so alt. Geh mit Gott, oder wie ihr das Ding dann nennt. Wir haben uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind zerlebt, unser Inhalt ist mit uns dahingegangen. Die Form war alles.
Ja, die Hand will ich dir noch geben. Wegen Anstand.
Und jetzt gehst du.
Aber das rufe ich dir noch nach: Besser seid ihr auch nicht als wir und die vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine -
Eine Schulklasse von mir (11. Klasse) musste auch mal solche Briefe nach vorn schreiben und sie in verschiedenen Büchern in unserer Schulbibliothek verstecken. Vermutlich hat sich doch keiner getraut. Irgendwann mache ich das vielleicht nochmal. Aber vielleicht nur ein oder zwei Briefe pro Klasse.
Nachtrag: Wie es bei Mythbusters heißt: Don’t try this at home. Normalerweise veröffentliche ich keine Texte anderer Autoren, da diese urheberrechtlich geschützt sind. Tucholsky-Texte darf man aber seit diesem Jahr verwenden, da der Herr schon 70 Jahre tot ist und seine Texte damit gemeinfrei geworden sind. Insofern ist also keineswegs Mozart- oder Heine-Jahr, sondern eigentlich Tucholsky-Jahr. Man sollte das Jahr feiern, in dem die Werke in die public domain wandern, das ist doch wichtiger als das Geburtsjahr. Letztes Jahr war es übrigens Ringelnatz, nächstes Jahr ist es G.K. Chesterton, auf Sigmund Freud muss man danach dann noch drei Jahre länger warten.