So lautete, verkürzt gesagt, das Erörterungsthema im bayerischen Abitur 2017, aufgehängt an einer Analyse der Argumente und Argumentationsweise einer Rede von Roman Herzog 1997. Bob Blume macht sich auch Gedanken über Literaturkanons, und darum, ob man Computerspiele im Unterricht so wie Texte behandeln sollte. Und weil ich heute mit meiner 9. Klasse die nächste Schullektüre ausgewählt habe, möchte ich auch meinen Senf zu Literatur im Deutschunterricht geben.
1. Ja, wir brauchen einen Literaturkanon.
(Gründe siehe irgendwo, da gibt es genug, die schenke ich mir.)
Aber wir kriegen nicht so leicht einen. Ich wüsste ja auch keine Instanz, die einen verbindlichen Kanon vorschreiben könnte. Und wem denn überhaupt? Sicher nicht den öffentlichen Bühnen; bleiben also die Schulen, und das Kultusministerium möchte ich sehen, dass eine längerfristig verbindliche Lektüreliste festlegt. Zumal das ja nur bundeslandübergreifend Sinn machen würde.
Einen Kanon in dem Sinn, dass eine Autorität formal ein Buch in eine Liste kanonisierter Bücher aufnimmt, wird es also nicht geben. Obwohl, so eine Art Walhalla oder wenigstens Ruhmeshalle wie hinter der Bavaria wär schon auch nett. Gipsabdrücke zentraler Werke, dann müsste man sie auch nicht lesen. — Was so ein Kanon im ursprünglichen Sinn ist, wissen manche Schüler übrigens sehr wohl: Im Star-Wars-Universum gibt es nicht nur die Filme, und Fernsehserien, sondern auch Bücher. Und manche dieser Bücher und Filme sind kanonisch, das heißt, ihre Handlung gehört offiziell, von Lucas, dann Disney abgesegnet, zum Star-Wars-Universum. Die alten Star-Wars-Comics von Marvel? Nicht kanonisch. Das Star Wars Holidy Special von 1978? Trotz Drehbuch von Lucas nicht kanonisch. Der Roman Die neuen Abenteuer des Luke Skywalker von Alan Dean Foster? Keine Ahnung. Als vor wenigen Jahren die jüngsten Filme ins Kino kamen, wurden plötzlich Jahrzehnte voller Romane aus dem Kanon gestrichen, sind jetzt Häresie, weil sie den neuen Filmen widersprechen. Bei Superhelden, Marvel und DC, und Sherlock Holmes, Star Trek und überhaupt jeder Serie gibt es kanonische und unkanonische Werke, und Aficionados diskutieren das Thema gerne.
Um so einen Kanon geht es also nicht. Trotzdem gibt es so etwas ähnliches. Im Studium hieß es: Kanonisch ist ein Buch dann, wenn man den Inhalt kennt, obwohl man es nie gelesen hat – weil es so oft zitiert wird, weil man so viel davon gehört hat, dass sich das ergibt. Wie groß ist der Buchkanon in Deutschland? Sehr, sehr klein. Wenn ich mit Schülern und Schülerinnen auf gemeinsame Werke zugreifen will, muss ich zu Filmen ausweichen, und selbst da gibt es wenige – Star Wars, Harry Potter. Bei Büchern: Harry Potter, noch. Nach der Schulzeit: Faust, Woyzeck. E.T.A. Hoffmann. Fontane.
Wie entsteht so ein literarischer Kanon? Indem überhaupt erst einmal gelesen wird, und indem über Bücher geredet wird – in Zeitungen, in Blogs, im Fernsehen, im Kino, in der Schule. Bei der Wahl einer Schullektüre ist es ein Faktor unter mehreren, ob ein Buch kanonisiert gehört, meiner Meinung nach. (Wessen sonst?) Bei zwei gleich geeigneten Werken nehme ich das, das Schüler in eine größere Gemeinschaft oder mit der Vergangenheit einbindet.
Das bringt mich zu Schullektüren.
2. Schule treibt Leuten nicht das Lesen aus
Ich lese das immer wieder mal, dass junge Leute so gern gelesen haben, bis die Schule ihnen das mit der Lektürebehandlung dort ausgetrieben hat. Ich glaube nicht, dass das oft vorkommt. In der Pubertät hört man aus verschiedenen Gründen mit dem Lesen auf. Dass man in der Schule Dürrenmatt lesen musste, dürfte nur in seltenen Fällen ein Problem sein. Wenn man dort Lieblingsbücher der Schüler zerredete, vielleicht; aber das kommt nicht vor.
Gleichfalls glaube ich nicht, dass Lektüre, wie man sie in der Schule einsetzt, Spaß machen muss. Es ist schön, wenn das so ist, aber Lesen kann eben auch Arbeit sein, das weiß jeder Geisteswissenschaftler und jeder, der sonst mit Texten arbeitet. Leseförderung in der Schule ist wichtig, aber ich bezweifle, dass Schullektüren, wie sie traditionell eingesetzt werden, dazu beitragen.
3. Ich möchte ein Lesebuch
Das mehr so als ceterum censeo: Was ist eigentlich mit den Lesebüchern passiert? Da gibt es sicher Forschung dazu, aber ich habe nicht die Zeit, ihr nachzugehen. Hier würde ich anfangen: Wikipedia, Notizen mit Quellen (pdf), ein Skript zur Geschichte der Deutschdidaktik (ganz unten auf der Seite). Bis Ende des 20. Jahrunderts hatten Schüler in Bayern ein Sprachbuch, das von meinen liebsten Deutschlehrern nie, und ein Lesebuch, das selten verwendet wurde. (Blogeintrag zu meinem Lesebuch der 11. Klasse.)
Danach verschwand das Lesebuch; Schülerinnen heute kriegen ein kombiniertes Sprach-/Lesebuch, das von Lehrern unterschiedlicher Generationen vermutlich unterschiedlich eingesetzt wird. Ich verwende es nach der Unterstufe nur noch als Materialquelle, vor allem für die Gedichte dort. Selbst die Prosatexte verwende ich nur gelegentlich. Die Erklärungen zum Aufbau eienr Erörterung oder die Arbeitsaufgaben zu den Texten verwende ich sehr selten. Trotz des Buches kriegen meine Schülerinnen und Schüler viel Papier: Die Textauswahl in den Sprachbücher ist viel zu gering. Exploratives Verhalten und offene Aufträge, die nicht an einen bestimmten Text gebunden sind, sind mit solchen Büchern auch schwer möglich, sondern nur mit einem Lesebuch.
Warum ist es verschwunden? Ich weiß es nicht. Damit die Schüler weniger tragen müssen? Weil Lesebücher nach Kanon riechen und der verpönt ist? Weil Schulen keines mehr gekauft haben und die Verlage deshalb keine produzierten? Weil die Verlage keine mehr produzierten, weil Lesebücher vielleicht lehrwerksunabhänging waren und deshalb nicht bei jedem neuen Lehrplan ein neues gekauft werden musste? Weil Lehrer nicht mit Texten allein arbeiten wollen, sondern Begleitmaterial dazu brauchen?

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