1. Geplänkel
Frau Rau reichte mir vor ein paar Monaten eine Buchbesprechung aus der Süddeutschen Zeitung weiter, und zwar aus zwei Gründen: erstens geht es um eine Art moderner Nacherzählung des Taugenichts von Joseph von Eichendorff, und zweitens ist das von Klaus Modick.
Klaus Modick ist ein deutscher Schriftsteller, von dem ich in einer prägenden Phase viel gelesen habe und dessen erfolgreiche Laufbahn ich seitdem aus den Augenwinkeln verfolgt habe. Man stößt wirklich immer wieder mal auf seinen Namen. In Oldenburg stand ich mal vor seinem Haus, wirklich ganz zufällig, weil wir jemanden dort besuchten und ich beim Spazierenlaufen auf das Haus hingewiesen wurde. Und vor einem Dutzend Jahren schrieb ich einen Blogartikel zu einem ganz anderen Thema, zitierte aus einem frühen Buch Modicks und fügte parenthetisch drei kritische Zeilen an. Worauf Klaus Modick mir eine freundliche E-Mail schrieb und mir ein aktuelles Buch schicken ließ, das mir vielleicht besser gefallen würde als das kritisierte. – Außerdem will ich seit Jahren mal ein Gedicht von ihm, „Kurze Hymne auf Donald“, im Unterricht einsetzen, bin aber noch nicht dazu gekommen. („Herrlich ist, Schöpfer Carl Barks, Deiner Erfindung Pracht:/
Bürzelbewehrt breitlappig fußender Enterich.“)
So viel zu Klaus Modick und mir, und später noch mehr zu diesem Thema.
2. Das Buch
In der Rezension oben steht eigentlich schon fast alles. Eichendorffs Müllerssohn bleibt nicht namenlos und ist auch kein Müllerssohn, sondern Sproß eines Installations-Handwerksbetriebs – und heißt immerhin Müller. Statt die Firma zu übernehmen oder wenigstens eine ordentliche Ausbildung zu machen oder auch nur zu studieren zieht es ihn nach Italien, wo er manche Abenteuer erlebt, nachdem er in einem Schlosshotel bei Wien Station macht und Held und Nebenson diverser Liebesgeschichten wird. „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Eichendorff gibt es in seiner Welt, aber der Ich-Erzähler erkennt keine Parallelen zwischen dessen und seiner eigenen Geschichte, nur einmal in einer magischen Nacht hat er „für einen Augenblick das Gefühl, ein anderer aus einer anderen, längst vergangenen Zeit zu sein.“
Vor dem Hintergrund des „Taugenichts“ ist das Buch ein Vergnügen: Die beiden Schlösser sind gut umgesetzt, das Schlosshotel, aber auch das Waldschloss und dessern Belegschaft. Vielleicht nicht gar so viele Schauermotive wie bei Eichendorff, aber die schätze möglicherweise nur ich so besonders, weil englische Schauerromantik und Räubergeschichten. Die Künstlerszene in Rom, auch schön. Der Plot… ehrlich gesagt, etwas leichter verständlich als bei Eichendorff, und das ist gut so. Bei dem musste ich mir beim zweiten und wohl auch dritten Lesedurchgang Skizzen machen, um den Überblick zu behalten, wer jetzt genau welche Gräfin und welcher Graf ist.
Wie ist Fahrtwind so, wenn man den „Taugenichts“ nicht kennt? Ich kann es mir nicht vorstellen. Leichte Sommerlektüre? Befremdliche Sommerlektüre? Unauffällige Sommerlektüre? Es hat jedenfalls nichts mit deutschen Filmkomödien der 1950er und 1960er Jahre zun, ein Weg, den man sich ja auch hätte vorstellen können.
Der Roman spielt in den späten 1970er Jahren oder knapp danach. Dennoch ist von Tiramisu die Rede, von Cappuccino, Ossobucco, Risotto milanese, einem perfekten caffè latte; der Ich-Erzähler – äußerst kundig zumindest auf diesem Gebiet, anders als bei Eichendorff – lobt kritisch Spaghetti und Wein. Das war ja kurz vor meiner Zeit, deshalb weiß ich das nicht aus eigener Erfahrung: War man zu der Zeit in Deutschland schon so weit? Italienurlaub ja, aber schon Cappuccino, mit Milchschaum gar statt Sahnehäubchen? (Auch die Ukulele, die Billy/Guido spielt, weiß ich zeitlich nicht einzuordnen.)
3. Neuerzählungen
Ich hätte bitte gerne mehr Neuerzählungen. Neuverfilmungen gibt es ja viele, und Film-Aktualisierungen von Shakespeare und Jane Austen zuhauf. Aber an deutscher Literatur, bei der ich mich allerdings wirklich nicht auskenne, fällt mir nur der Modick ein und eine DSA-Fantasyversion von Dürrenmatts Der Richter und sein Henker:
Ich bin sehr an Hinweisen auf ähnliche Bücher interessiert und würde gerne mehr davon lesen. Warum?
4. Bücher wiederlesen
Die oben erwähnte Buchbesprechung finde ich ganz gelungen. Mich wunderte nur ein bisschen, dass kein Vergleich gezogen wurde zwischem dem Müllersohn, den es ins Blaue zieht – das Blau des Himmels, ins Blaue hinein, das endlose Blaue, blaue Ferne – knapp dreißigmal habe ich das Blau gezählt in dem schmalen Roman (was macht den Modick zum Roman und den Eichendorff zur Novelle?) – dass kein Vergleich gezogen wurde zwischen dem Müllersohn und Modicks erstem Roman, der Ins Blaue heißt, wohl sehr erfolgeich war und in Südfrankreich spielt, also irgendwie jedenfalls. (Es ist kompliziert.)
Exkurs: Es gibt ja das traurige Blau, das mit dem Blues, auch in vielen Liedern. Aber auch das Blau der Ferne haben nicht nur die Romantiker besungen, deshalb hier zwischendurch drei Favoriten:
- Beyond the blue horizon (viele Version, die hier ist von Jeanette MacDonald 1930, und man muss Sopran abkommen)
- Child of the wild blue yonder (John Hiatt)
- Nel blu dipinto di blu, natürlich, a.k.a „Volare“ (Domenico Modugno)
Jedenfalls würde ich Ins Blaue noch einmal lesen müssen. Würde es mir noch gefallen? Modicks launige Bücher sind mir manchmal zu launig, aber vielleicht auch nur inzwischen; seine ernsteren Bücher sind mir etwas zu seriös, aber vielleicht auch nur damals, als ich wollte, dass er bitteschön immer das gleiche schreibt, aber so, dass man es nicht merkt.
Aber vor Ins Blaue habe ich erst einmal Tucholsky wiedergelesen, Schloß Gripsholm. Denn ein Zitat daraus ist Ins Blaue vorangestellt; die Rezension der Süddeutschen auf dem Klappentext meiner Ausgabe erkennt bei Modick gleichfalls „manches von dem Witz und dem Charme und der Leichtigkeit Tucholskys.“ Modick verwendet auch Motive und Zitate aus Tucholskys Roman in seinem.
Vor dem Tucholsky habe ich Eichendorffs „Taugenichts“ selber noch einmal gelesen. Das tut man als Deutschlehrer ja ohnehin vielleicht etwas öfter als sonst, und ich mag Eichendorff ja auch sonst. (Eichendorff-Krimi?)
Einen weiteren frühen Roman Modicks, Das Grau der Karolinen, möchte ich ebenfalls lesen, der könnte sich gut gehalten haben.
Bei Wikipedia lese ich, dass Modick eine Art Fortsetzung zu Ins Blaue geschrieben hat, 2002, September Song. Also, neugierig bin ich ja schon, also kommt der auch auf die Liste.
(Dass Modick William Goldmans The Silent Gondoliers übersetzt hat, sehe ich bei Wikipedia, schau an. Aber den habe ich schon auf Englisch im Regal.)
In Fahrtwind wird The Doors of Perception erwähnt, aber das kenne ich schon, und ein Roman The Blood Oranges, nie gehört, „in dem es darum ging, wie eine der Engländerinnen, charmant errötend, verriet, dass ein snobistischer Ästhet versucht, in einer Villa an der Adria eine Idylle vollkommener sexueller Freiheit zu schaffen.“ Also kurz recherchiert, John Hawkes, schau an, und anscheinend Teil einer Trilogie, zu der auch Travesty (1976) gehört. Oh nein! Würde ich die auch noch lesen müssen? Wohl nicht, stellt sich heraus; auch wenn ich Travesty gelesen habe, gehören die drei Bände wohl nur lose zusammen. Und Travestie (älterer deutscher Titel, der neue ist Belohnung für schnelles Fahren bei Nacht) hat mir nur so mittel gefallen, und eigentlich habe ich das Buch nicht mal richtig gelesen, aber es war ein unvergessliches Leseerlebnis: Das Buch, der Monolog eines Mannes, der seine Tochter und deren Geliebten (seinen Freund und wohl auch Geliebten seiner Frau) im Auto sitzen hat und mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht fährt, mit der Ankündigung, am Ende alle miteinander durch einen Unfall an einer bestimmten Stelle zu töten – das Buch wurde mir während einer Autofahrt vom Beifahrersitz vorgelesen, als ich am Steuer saß.
5. Bücher und Erinnerungen
Umberto Eco schrieb mal, ein Roman sei eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Und das stimmt auch. Aber ein Roman ist auch eine Maschine zur Erzeugung von Erinnerungen. Ich weiß noch, wo und wie ich war, als ich viele Bücher gelesen habe, oder wenn ich es nicht mehr weiß, fällt es mir beim Wiederlesen wieder ein, oder wenigstens wundere ich mich über den Kerl, der ich mal war.
In dieser Hinsicht sind Romane, die man liest, wie Orte, die man besucht, wie Reisen, die man unternimmt, und von denen man mal mehr, mal weniger Erinnerungen behält. Und Schullektüren sind wie Reisen als Kind mit den Eltern: Da wird man in Kathedralen gezerrt, die einen vielleicht noch gar nicht interessieren und mit denen man nichts anfangen kann – aber manche Absätze oder Brücken oder Eindrücke bleiben hängen, oder wenigstens das Essen dabei. Oder gilt das alles nur für die Kindheit und Jugend?
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