
Kate Fox sitzt in einem Pub, vormittags, einen Brandy vor sich: Teils um sich Mut anzutrinken, teils als Belohnung. Die letzten zwei Stunden hat sie damit verbracht, Passanten im Vorbeigehen anzurempeln und zu zählen, wie oft die Angerempelten „Sorry“ sagen. Die nächsten zwei Stunden wird sie damit verbringen, sich in Warteschlangen vorzudrängeln und zu notieren, wie sich die Wartenden daraufhin verhalten. Kate Fox ist Anthropologin und schreibt ein Buch über: The Hidden Rules of English Behaviour, so der Untertitel.
(Die Sache mit dem „Sorry“-sagen ist tatsächlich ein auffälliges Merkmal: Engländer entschuldigen sich, wenn sie jemanden versehentlich anrempeln, und entschuldigen sich vor allem auch, wenn sie angerempelt werden. Das gilt für die meisten Altersgruppen und sozialen Schichten und ist äußerst liebenswert. Bei uns ist das nicht üblich. Wir haben andere Vorteile, zugegeben.)
Letztlich will Fox untersuchen, was Englishness ausmacht. Zu diesem Zweck beobachtet sie das Verhalten von Engländern und versucht, die bewussten oder unbewussten Regeln herauszuarbeiten, nach denen sie reden, leben, arbeiten, sich kleiden, feiern, essen. Zum Schluss abstrahiert sie noch einmal aus den gefundenen Regeln bestimmte Eigenschaften: Einen Nationalcharakter der Engländer. (Engländer im präziseren Sinn: Also ohne Schotten und Waliser.)
Das macht sie auf vergnügliche Weise. Das Buch ist unterhaltsam, umfangreich, über 400 Seiten, und lehrreich für, äh, zum Beispiel Englischlehrer. Ich war mal mit einer deutschen Lehrergruppe in einem englischen Pub, frage nicht. Englandfreunde erkennen viele Details wieder, und selbst wer sich nicht sehr für England interessiert, kann die Regeln des eigenen Landes besser sehen vor dem Kontrast der Beschreibung Englands.
Wenn man feststellen will, welche Regeln typisch englisch sind, hilft es zu wissen, welche Regeln typisch menschlich sind. Es ist keine große Erkenntnis, herauszufinden, dass es in England ein Klassensysten gibt: In jeder menschlichen Gesellschaft gibt es das. Die spezifisch englische Ausprägung ist allerdings sehr wohl interessant. Fox zitiert eine Liste ihres Vaters Robin Fox („a much more eminent anthropologist“) solcher Universalien menschlicher Kulturen:
Laws about property, rules about incest and marriage, customs of taboo and avoidance, methods of settling disputes with a minimum of bloodshed, beliefs about the supernatural and practices relating to it, a system of social status and methods of indicating it, initiation ceremonies for young men, courtship practices involving the adornment of females, systems of symbolic body ornament generally, certain activities set aside for men from which women are excluded, gambling of some kind, a tool- and weapons making industry, myths and legends, dancing, adultery and various doses of homicide, suicide, homosexuality, schizophrenia, psychsoes and neuroses, and various practicioners to take advantage of or cure these, depending on how they are viewed.
Fox bietet auch eine vollständigere, aber weniger amüsant formulierte Liste an.
Interessante Kleinigkeiten, die mir vorher nicht so klar waren:
- „No sex please, we’re British“ ist eine oft gehörte scherzhafte Floskel. Das liegt aber nicht daran, dass das Verhältnis zu Sex puritanisch ist wie in den USA: Sex ist keineswegs sündhaft, lediglich awkward. (Dennoch hat England die höchste Rate an Schwangerschaften unter Teenagern in Europa.)
- Der englische Premierminister darf nicht „Gott“ sagen – ganz anders etwa als der amerikanische Präsident, der das Wort ständig im Mund führt. (357)
- „[T]he effects of alcohol on behaviour are determined by social and cultural rules and norms, not by the chemical actions of ethanol.“ (261) Mir hat man ja in der Schule beigebracht, dass Alkohol enthemmend wirkt. Das ist sicher richtig. Aber wie man sich unter Akoholeinfluss verhält, hat viel mehr damit zu tun, was die gesellschaftlichen Regeln für das Verhalten unter Alkoholeinfluss vorschreiben. Wenn die Regeln pöbelhaftes Verhalten vorschreiben, benimmt man sich unter Alkoholeinfluss so (Fußball), ansonsten nicht (Pferderennen). Die Umwelt signalisiert Anerkennung für das akzeptierte Verhalten, und deshalb verhält man sich so.
Das finde ich hoch interessant! - Wieso reden die Engländer ständig vom Wetter? Fox zitiert Bill Brysons Verwunderung darüber, da doch das Wetter in England so völlig unspektakulär gemäßigt ist. Fox zitiert eine Replik, laut der eben dieses Undramatische des Wetters die Nuancen so interessant und spannend macht. (Das schöne am Wetter ist übrigens, dass es vielleicht wirklich jeden Tag ein bisschen regnet, dass aber auch jeden Tag ein bisschen die Sonne scheint.) In Wirklichkeit, so Fox, reden die Engländer natürlich über das Wetter, weil das eine unkomplizierte, einfache, normierte, verpflichtungslose Konversation mit Fremden erlaubt. Das Wetter selber ist dabei nur sekundär. Die Normen regeln das Gespräch, es gibt aber auch Fallstricke: „Snow is also socially and conversationally a special and awkward case, as it is aesthetically pleasing, but practically inconvenient.“ (p. 33)
- She interessant die Verhaltensregeln im Pub: Wie man ein Bier bestellt, wie man sich am Tresen in die unsichtbare Warteschlange einreiht.
- Überhaupt, das Verhalten in Warteschlangen, hochspannend. Wie man einen potentiellen Vordrängler wittert, quasi mit den Füßen scharrt – das ist bei uns ähnlich.
Für die Schule wichtig ist das, wenn es um die Frage geht: Was heißt Abendessen auf Englisch? Was sollen wir den Schülern da beibringen? „Tea“ ist das Abendessen der working class um halb sieben. „Dinner“ ist lower-middle/middle-class und eine halbe Stunde später. „Supper“ ist das Abendessen der upper-middle/upper class (für die „dinner“ ein festliches Abendessen ist), jeweils noch etwas später.
Was sollen wir unseren Schülern sagen, wenn die wissen wollen, was Abendessen heißt?
Manchmal übersieht Fox meiner Meinung nach das Ungewöhnliche am Englisch-Sein: Sie sagt, „there is little about the format of an average English wedding that would seem odd or unfamiliar to a visitor from any other Western culture: we have the usual stag and hen nights […]; bridesmaids […]; best man“ (371). Englische Hochzeiten unterscheiden sich meiner Meinung nach aber nicht nur im Detail von etwa deutschen, spanischen oder französischen.
Oder zum Thema Klassenbewusstsein (406):
All human societies have a social hierarchy and methods of indicating social status. What is distinctive about the English class system is (a) the degree to which our class (and/or class anxiety) determines our taste, behaviour, judgements and interactions; (b) the fact that class is not judged at all on wealth, and very little on occupation, but purely on non-economic indicators such as speech, manner, taste and lifestyle choices; (c) the acute sensitivity of our on board class radar systems; and (d) our denial of all this and coy squeamishness about class: the hidden, indirect, unspoken, hypocritical/self delusional nature of English class consciousness (particularly among the middle classes).
Klassenzugehörigkeit erkennt man also nicht am Reichtum, sehr wenig am Beruf, sondern an Redeweise, Geschmack und Lebensstil. Gleichzeitig bestimmt die Klassenzugehörigkeit diese Eigenschaften. Das kann doch aber nicht alles sein? Das klingt nach einem „separate, but equal“, aber sind nicht doch einige gleicher als andere?
Zum Schluss des Buches gibt es ein sehr knappes und überschaubares Diagramm zum Englisch-Sein. Fox entschuldigt sich wortgewandt dafür, dass sie das nicht sehr gut kann (und illustriert damit gleich einen herausgefundenen englischen Wesenszug). Und weil sie dieses Diagramm während des ganzen Buches immer wieder ankündigt, will ich ihr das Privileg des Präsentierens nicht nehmen und nur wenig zum Diagramm sagen.
Während des Lesens dachte ich manchmal, die herausgefundenen Wesenszüge seien so universell, dass sich wie in einem Horoskop jede westliche Nation darin wiedererkennen müsste. Das stimmt aber nicht. Ein deutsches Diagramm sähe ganz anders aus, mit ganz anderem zentralen Begriff – und während der Humor in England in jeder Situation eine Rolle spielt, ist die Anwendung in Deutschland abgegrenzt und geregelt. Deswegen glauben die Engländer auch, die Deutschen hätten keinen Humor.
(Beitrag stammt aus der Kiste, ich bin immer noch am Stundenplanen und sehr, sehr müde.)
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