Erinnerungen an Venedig
“Alle Städte sind gleich, nur Venedig ist ein bissl anders.” So lässt Friedrich Torberg die Tante Jolesch sagen, und die Tante Jolesch hat gar nicht Unrecht damit. Venedig ist anders. Venedig ist ganz genau so, wie es im Film Top Hat (1935) dargestellt wird, zum Beispiel am Anfang dieser Szene:
Wohlgemerkt: Das soll das echte Venedig sein, in dem sich die von Fred Astaire und Ginger Rogers gespielten Charaktere aufhalten, nicht etwa eine Venedig-Revue auf einer großen Bühne. Und doch trifft diese Märchenlandschaft das Unwirkliche von Venedig besser, als man meint.
Vielleicht ist das Surrealste die Tatsache, dass es keine Autos gibt, und eine Stadt mit Straßen, aber ohne Autos wäre ähnlich unwirklich – aber wo Straße, da halt auch Auto.
Ich habe viele Erinnerungen an Venedig. Manche davon sind falsch. Im Rollenspiele war ich schon in Paris, im Harz auf dem Brocken, in Paris, in Nepal, in Dublin. (Und als ich das erste Mal dann wirklich in Dublin war, kam mir manches vertraut vor.) Und auch in Venedig war ich da schon, ich kann mich genau erinnern, das muss 1937 oder so gewesen sein. Es war nur auf der Durchreise, ein oder zwei Tage, ging dann bald weiter nach Nordostafrika, aber an einen Abend in Harry’s Bar kann ich mich erinnern. – Nur dass meine Notizen sagen, dass das gar nicht die Harry’s Bar in Venedig war, sondern die in Paris! Anscheinend sind meine falschen Erinnerungen doppelt falsch. Dennoch erstaunlich, wie echt diese Rollenspiel-Erinnerungen wirken – ganz im Gegensatz zu Film-Erinnerungen übrigens.
Richtigere Erinnerungen habe ich auch, ich war schon mindestens zweimal in Venedig; das letzte Mal jedenfalls mit knapp sechzehn Jahren. Das da links bin ich, und das rechts hat Frau Rau heute aufgenommen. Links halte ich wohl Futter für die Tauben, rechts Futter für Frau Rau:

(Ach, es waren andere Zeiten damals. Vielen Dank an meine Eltern. Ich habe das alles gar nicht zu würdigen gewusst und für selbstverständlich genommen. Venedig, USA, Bahamas. Was für ein Aufwand, in den 1970er, 1980er Jahren.)
Venedig im Deutschunterricht
Im Deutschunterricht beginnt die Rom-Rezeption früher als die von Venedig. Rom, das ist das, was Goethe so beeindruckte; italienische Reise, Antike, Weimarer Klassik. Venedig taucht erst später auf, mit Thomas Mann, und einige Jahrzehnte zuvor mit Conrad Ferdinand Meyer, und ein Nietzsche-Gedicht fällt mir noch ein. Beide Gedichte kenne ich aus meinem liebsten Schulbuch aus meiner 11. Klasse
Auf dem Canal grande betten
Tief sich ein die Abendschatten,
Hundert dunkle Gondeln gleiten
Als ein flüsterndes Geheimnis.Aber zwischen zwei Palästen
Glüht herein die Abendsonne,
Flammend wirft sie einen grellen
Breiten Streifen auf die Gondeln.In dem purpurroten Lichte
Laute Stimmen, hell Gelächter,
Überredende Gebärden
Und das frevle Spiel der Augen.Eine kleine, kurze Strecke
Conrad Ferdinand Meyer
Treibt das Leben leidenschaftlich
Und erlischt im Schatten drüben
Als ein unverständlich Murmeln.
Ich mag dieses Gedicht sehr. Dabei interessiert mich eine eventuelle metaphorische Übertragung auf das Leben an sich, zu der einen die letzte Strophe verleiten mag, überhaupt nicht; ich schätze daran nur die Abbildung einer Szene. Wie hier Licht und Laut und Leben entsteht in den mittleren beiden Strophen, und Stille und Dunkelheit in der ersten und letzten Strophe: so ist das Abendlicht in Venedig. – Kein echtes Venedig, das “frevle Spiel der Augen”, das flüsternde Geheimnis rufen ein romantisiertes Bild hervor – hier steht Venedig für Abenteuer, erotische und andere; für Intrigen und Ränke. Bevor Venedig zum Sinnbild des eleganten Verfalls wurde, war es ein Ort der Verschwörungen und Intrigen, mit Casanova und Cagliostro.
Das gibt es etwa in Friedrich Schillers Der Geisterseher – siehe den ausführlichen Blogeintrag dazu. – Wie sahen eigentlich die deutschen und englischen Romantiker (einschließlich der Klassik) Venedig? Ich höre da immer nur von Italien allgemein, und von Rom. Von Shelley und Byron gibt es wohl etwas zu Venedig; für die deutsche Klassik war Rom prägender – klar, Venedig ist nicht antik, hier steht nichts Römisches auffällig sichtbar herum. Und der Verfall – kann es sein, dass die deutschen Romantiker sich bei allem Ruinenkult nicht für italienische Ruinen interessierten?
Immerhin ergibt eine kurze Recherche, dass Goethe auf seiner Italienreise auch in Venedig war.
So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat.
Als die erste Gondel an das Schiff anfuhr (es geschieht, um Passagiere, welche Eil’ haben, geschwinder nach Venedig zu bringen), erinnerte ich mich eines frühen Kinderspielzeuges, an das ich vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen langentbehrten freundlichen Jugendeindruck.
Goethe, Italienische Reise, 28. September 1786
Biberrepublik! Was für ein schönes Wort! Warum hört man das nicht öfter in Verbindung mit Venedig? Und ganz reizend auch, dass die Gondeln schon damals beliebte Souvenirs waren. (Goethes Vater hatte 1740/41 eine Bildungsreise nach Italien unternommen und darüber ein Buch geschrieben.)
Die Enge und Gedrängtheit des Ganzen denkt man nicht, ohne es gesehen zu haben. Gewöhnlich kann man die Breite der Gasse mit ausgereckten Armen entweder ganz oder beinahe messen, in den engsten stößt man schon mit den Ellbogen an, wenn man die Hände in die Seite stemmt; es gibt wohl breitere, auch hie und da ein Plätzchen, verhältnismäßig aber kann alles enge genannt werden.
Goethe, Italienische Reise, Den 29sten, Michaelistag, abends.
Also, ganz so eng ist es auch wieder nicht. Aber mit ein bisschen Suchen bin ich schon auf Gassen gestoßen, die den Goethetest bestehen.


Nachdem ich müde geworden, setzte ich mich in eine Gondel, die engen Gassen verlassend, und fuhr […] bis gegen den Markusplatz, und war nun auf einmal ein Mitherr des Adriatischen Meeres, wie jeder Venezianer sich fühlt, wenn er sich in seine Gondel legt. Ich gedachte dabei meines guten Vaters in Ehren, der nichts Besseres wußte, als von diesen Dingen zu erzählen. Wird mir’s nicht auch so gehen?
Den 29sten, Michaelistag, abends.
Auch hier hat Goethe, finde ich, das Gefühl richtig beschrieben. Weil heute, so im Vaporetto, dem Alltagsfahrzeug der Venezianer (wenn es in Venedig überhaupt noch Venezianer gibt, das kann ich nicht beurteilen), da dachte ich mir das auch.

Bilder und Museen
Anfahrt mit dem Zug, knapp sieben Stunden Direktverbindung von München aus, mit Landschaft drumrum. Und dann steigt man aus dem Zug und steht mitten in Venedig. Nachts leere und ruhige Gässchen.
Die verwinkelten und stillen Gässchen – sind sie ein Zeichen dafür, dass dort niemand mehr wohnt? Oder ist es dann einfach verschlafener Stadtkern? Wird Venedig irgendwann mal ganz Museum sein – so ein Disneyworld, in dem man wohnen kann?
Das allerletzte Bild nur deshalb, weil ich mal für Geld einen Text über Fortuny übersetzt habe, und weil ein Lied auf einer Platte von The Bathers so heißt, und meine Bathers-Platten habe ich in einer prägenden Phase meines Lebens viel gehört.
Die… befremdlichen Bilder davor stammen aus dem Museo di Storia Naturale di Venezia. Ich gehe ja sehr gerne in naturhistorische Museen, komme aber weniger dazu, als man meint. Das in Venedig ist… sehenswert. Viele Räume davon sind schick und modern, siehe das blaue Bild, und sehr ansprechend aufgemacht, auch wenn die Texte alle nur auf Italienisch sind. Aber davor gibt es zwei Säle mit historischen Sammlungen, und drei, vier, Räume, in denen die Beute eines Jäger und Sammlers des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts steht – gehäuft, und kaum kommentiert, lediglich und wenigstens mit einigen Texten zum Kolonialismus. Aber nichts zu der zur Schau gestellten Mumie, den Schrumpfköpfen, den Schädeln – oder eben den vielen ausgestopften Tieren, obszön in ihrer Fülle. Aber so muss das bei Agatha Christie und auch schon bei Doyle gewesen sein, diese Jäger mit dunkler Vergangenheit, die aus Afrika mit ihrer Beute zurückkommen und die dann aushängen.
Anhang
Beim Suchen nach dem Text des Canal-Grande-Gedichts bin ich auf ein gleichnamiges, viel weniger bekanntes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer gestoßen:
Auf dem Canal grande.
Eine glückgefüllte Gondel gleitet auf dem Canal grande,
An Giorgione lehnt die Blonde mit dem rothen Sammtgewande.
„Giorgio, Deiner Laute Saiten hör’ ich leise, leise klingen“ –
„Julia Vendramin, Erlauchte, was befiehlst du mir zu singen?“
Nichts von schönen Augen, Giorgio! Solches Thema sollst du lassen!
Singe, wie dem Meer entstiegen diese wunderbaren Gassen!
Fessle kränzend keine Locken, die sich ringeln los und ledig!
Giorgio, singe mir von meinem unvergleichlichen Venedig!”
„Meine süße Muse will es! Es geschieht!“ Er präludierte.
„Weiland, eh’ des heil’gen Marcus Flagge dieses Meer regierte,
Drüben dort, wo duftverschleiert Istriens schöne Berge blauen,
Sank vor ungezählten Jahren eine Dämm’rung voller Grauen.
Durch das Dunkel huschen Larven, angstgeschreckte Hunde winseln,
Schreie gellen, Stimmen warnen: „Löst die Böte! Nach den Inseln!“
In den Lüften haucht ein Odem, wie es in den Gräbern modert –
Schaurig tagen Meer und Himmel! Aquileja brennt und lodert!
Von der Stätte, wo die stillen, ungezähmten Flammen wogen,
Kommt ein dumpfes Menschenbrausen nach dem freien Strand gezogen:
Attila, die Gottesgeißel, jagt auf blutbesprengten Pfaden
Krieger mit zerbrochnen Schwertern, Fraun mit Schätzen schwer beladen.
Wie zum Hades Schatten wandern, ziehn zum Meere die Gescheuchten,
Das die purpurroth gefärbten Wolken weit hinaus beleuchten,
Wittwen, Waisen schreiten jammernd, schweigend stürzen wunde Männer,
Mitten im Gewühle bäumen Wagen sich und scheue Renner.
Kniee wanken, Füße gleiten, Kästchen brechen, draus die hellen
Goldnen Reife rollend springen und die weißen Perlen quellen.
Nackte Küstenkinder starren gierig auf das rings zerstreute
Gold, und doch betastet’s keines, – Etzel’s ist die ganze Beute!
Schiffer rüsten dunkle Nachen, drüber Wogen schäumend schlagen,
Durch die weiße Brandung werden bleiche Fraun an Bord getragen –
Mit der Rechten an die phryg’sche Mütze langt der Meerplebejer,
Beut zum Sprung ins Boot die Linke dem behelmten Aquilejer.
Schon entflieht ein Schiff mit weh’nden Segeln, flatternden Gewanden,
Drin sich weitgetrennte Loose sonder Wahl zusammenfanden,
Unbekannte Hände drücken sich in angstbeklommnem Traume,
Aquileja’s Ueberbleibsel schmiegen sich in engem Raume.
Letzte Scheideblicke wendend, sehn sie noch den Himmel bluten
Aber tiefer stets und ferner brennen die gesunknen Gluten.
Still verglimmt der Heimat müde Todesfackel. Auf die Ruder
Beugt sich Unglück neben Unglück, Bruder seufzend neben Bruder.
Eine Fürstin küsst ein Knäblein, ein dem Edelblute fremdes,
Eine Sclavin wärmt ein fürstlich Kind im Schooß des Wollenhemdes –
Unter ihnen Eine Tiefe, über ihnen Eine Wolke –
Liebe thaut vom Himmel, Liebe wächst in diesem neuen Volke.
Ueber eines Mantels Flattern, sturmverwehten greisen Haaren
Will das Schweben einer Glorie einen Heil’gen offenbaren,
Dieses ist der heil’ge Marcus, rüstig rudernd wie ein Andrer –
Nach den nahenden Lagunen lenkt die Fahrt der sel’ge Wandrer.
Neben ihm der Jugendschlanke schlägt die Wellen, daß sie schallen,
Wirren Locken sind die Kränze schwelgerischer Lust entfallen.
Der Bacchant wird zum Aeneas. Niederbrannte Troja’s Feuer.
Mit den rudernden Genossen sucht er edles Abenteuer.
Mälig lichtet sich der Osten. In der ersten Helle schauen
Kecke Männer tief ins Antlitz morgenstiller schöner Frauen –
Lieblich Haupt, das blonde Flechten wie mit lichtem Ring umwinden,
Bald an einem tapfern Herzen wirst du deine Heimat finden!
Scharfgezeichnet neigt sich eines Helden narb’ge Stirne denkend,
In das göttliche Geheimniß ew’gen Werdens sich versenkend;
Rings in Stücke sprang zerschmettert Roma’s rost’ge Riesenkette,
Neue Weltgeschicke gönnen junger Freiheit eine Stätte . . . .
Wie geworfen aus dem Himmel heiter spielend von Auroren,
Schwimmt ein lichter Kranz von Inseln in die blaue Flut verloren –
Jubelnd grüßen den beschwingten, den beseelten Ruderschlägen
Fischer bis zum Gurt umbrandet, netzezieh’nde, schon entgegen.
„Fleh’nde kommen wir, Veneter! Drüben flammt ein weit Verderben!
Unsre Seelen sind entronnen einem ungeheuern Sterben!“
„Freuet euch! Ihr lebt und athmet! Hier ist euch Asyl gegeben!
Friede sei mit euren Todten! Freude denen, die da leben! . . .“
Schwert und Ruder tragend wallen ernste Genien vor den Böten;
Auch ein Schwarm von Liebesgöttern flügelt durch die jungen Röten –
Ueber das Gestein der Inseln geht ein Hauch von Lust und Wonne,
Ahnungsvollem Meer entsteigend, prangt Venedigs erste Sonne.
Blonde Julia, Deiner Heimath Ursprung hab’ ich dir verkündet,
Liebe hat die Stadt Venedig, Liebe hat die Welt gegründet –
Deiner Augen strahlend blauer Himmel würde bleichen ohne
Liebesfeuer und verstummen, wie die Laute des Giorgione.“
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