
Ich bin mal eine Nacht lang Philip Marlowe hinterher gerannt. Erwischt habe ich ihn nicht, aber ich war sooo knapp davor.
Es begann, wie sich das gehört, mit einem Telegramm. Es trudelte im Laufe meines 21. Geburtstags ein, will heißen: Es wurde mir telefonisch durch die Post vorgelesen. (So war das nämlich mit Telegrammen damals. Am Tag darauf brachte der Postbote das Papier.)

Ein Telegramm von P.M. – Philip Marlowe, soviel wusste ich. Um 23.59 Uhr oder allenfalls einige Minuten zuvor war ich pünktlich und mit elterlichem Auto an der angegebenen Telefonzelle. Ich hatte meinen besten Regenmantel an und den Kragen hochgeschlagen. Kein Mensch war zu sehen. Erst nach einiger Zeit bemerkte ich den Zettel, der an der Tür der Telefonzelle klebte:

„Ich bin ein Freund von Raymond Chandler / und Du ab jetzt mein Unterhändler.“ Wunderbarer Reim. Ich hatte ihn also knapp verpasst, schlug innen in der Telefonzelle im Telefonbuch unter M wie Marlowe nach und fand einen Briefumschlag mit weiteren Angaben:


„Kemal“ war Kemal Kayankaya, Held der damals zwei erschienenen Krimis von Jakob Arjouni – „Happy Birthday, Türke“ und „Ein Mann, ein Mord“. Und Kemal hatte mich also Marlowe empfohlen. Nun gut. Hinter der Telefonzelle war tatsächlich ein Stadtplan von Augsburg.

Und ein halber Geldschein.

Meine Ortskenntnis ist und war schlecht, ich konnte den Stadtplan also gut brauchen, und war Punkt ein Uhr an der angegebenen Adresse. Ein paar Minuten hatte ich wartend mit einer Zigarette verbracht. Ein bisschen mulmig war mir schon, als ich an der Wohnungstür läutete. Ein Wohnblock, 70er-Jahre-Architektur. Ich dachte, mich würden meine Freunde erwarten, vielleicht bei anderen, mir noch unbekannten Freunden in deren Wohnung.
Die Türe wurde von einer älteren Dame geöffnet. Graue Haare, im Großmutteralter. Ein Uhr nachts. „Ja?“ fragte sie. „Was ist?“
Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, nichts furchtbar Sinnvolles vermutlich. Die Dame sagte, immer noch in der Tür stehend: „Ich glaube, Sie haben etwas für mich.“ Aber sie sagte es mit einem leisen Zweifel in der Stimme, der mir zu signalisieren schien, dass ohne den halben Geldschein nichts für mich zu holen war. Da könnte ja jeder mit einer Räuberpistole um ein Uhr nachts kommen und etwas von ihr wollen. Ich gab ihr meine Hälfte, sie verglich sie mit ihrer:

Und gab mir daraufhin eine Kassette. (Eine Audiokassette, muss man heute sagen.) Ich verabschiedete mich und ging, ein wenig irritiert, zum Auto.
Kassette ins Autoradio. Die Stimme eines Freundes. „Marlowe“ entschuldigte sich, er habe nicht auf mich warten können, aber diese Kassette bei einer alten Wodka-Freundin (Arjouni-Zitat) deponiert. Und dann lotste mich die Stimme auf der Kassette in Echtzeit durch das nächtliche Augsburg. „An der nächsten Kreuzung fährst du geradeaus. Bald siehst du ein großes, gelbes Haus. Dahinter führt eine kleine Straße nach links.“ Und so weiter, eine kleine Weile.
Ich fuhr in den Westen Augsburgs. Wenig Verkehr um diese Zeit. Die Stimme dirigierte mich auf eine Brücke. „Und jetzt anhalten“. Ich weiß noch, ich habe mitten auf der Brücke angehalten, ohne darauf zu achten, ob nicht doch hinter mir irgendein Auto war. Glück gehabt. „Schau jetzt nacht links.“ Dort war ein Parkplatz nahe einer kleinen Kanalschleuse. Hinfahren, aussteigen, herumsuchen. Ich fand einen großen Schuhkarton.
Darauf geschrieben: „Ein alter Chinese gab mir das. Muß ’ne Spur sein. Verfolg sie. Der richtige Umschlag zum einzig möglichen Ziel.“
In der Kiste war ein dreidimensionales Labyrinth mit drei Ebenen und eine Reihe von Umschlägen. Ich bastelte das Labyrinth zusammen, auf dem Parkplatz, mit der Taschenlampe. Ah, das waren Zeiten!





Das Labyrinth hatte drei potenzielle Lösungen, nur eine war die richtige. In dem Schuhkarton waren auch drei Briefumschläge mit drei verschiedenen Anweisungen, wie es weitergehen würde:


Es war Lösung zwei. Man beachte den schönen Reim, „atlantischen Nektar/weg war’s“. Der einstige Hort des atlantischen Nektars war eine leere Colaflasche (das hatte ich bereits vermutet), die ich am angegebenen Ort nach etwas Suchen fand.
Ganz leer war sie natürlich nicht, sie enthielt einen Plastikstift, der nur als Hülle für einen Zettel diente, und einen… Schlüssel! Es gibt wenig Dramatischeres als einen Schlüssel.

Um zu erfahren, was ich mich dem Schlüssel anstellen konnte, musste ich erst das kleine mathematische Rätsel lösen. Nachts, Taschenlampe, vor neunzehn Jahren, wir erinnern uns.


Aber so etwas konnte ich damals zumindest sehr fix. Es war der Hauptbahnhof Augsburgs und zwar, richtig, der Schlüssel passte zu einem der Schließfächer dort. Also hingefahren, aufgemacht. Vielleicht eine Zigarette geraucht zwischendrin. Für die Nerven. Und für den Trenchcoat.
Im Schließfach fand ich ein großes, wunderschön exotisches, banal in Zeitungspapier eingewickeltes Paket. Genau so eines, wie es Sam Spade vom sterbenden Captain Jacobi gebracht wurde. Drumrum eine Schnur, dran eine Karte.

Na, was reimt sich auf „Schalke“ und ist ein Film mit Humphrey Bogart, Mary Astor, Peter Lorre und Sidney Greenstreet, Romanvorlage Dashiell Hammett, Regie John Huston? Genauso ein Paket gab es in dem Film übrigens auch.
Bei mir war war dieser Vogel drin:

Immerhin:

:-)
Damit war die Nacht fast zu Ende. Ich fuhr nach Hause. Vor der Tür lag noch eine Schachtel Camel, filterlos, soft pack, eine Karte und eine Postkarte.

Wieder mit kühnen Reimen.

Dazu eine Postkarte, vorn Trenchcoats, hinten Astairegrüße:

Fred Astaire: Neben den Krimis ein weiteres prägendes Vorbild für mich.
Müde ins Bett gefallen.
Im Laufe des nächsten Tags kam dann ein weiteres Telegramm, in dem sich Marlowe verabschiedete.

— Die Freunde sehe ich heute noch ein- oder zweimal im Jahr. Immerhin. Es war eine sehr, sehr schöne Zeit, über die ich hier noch fast nichts geschrieben habe. Die Kassette habe ich zurückgegeben. Mein Freunde – es waren drei – waren mir die ganze Nacht über nur jeweils eine knappe Stunde voraus gewesen.
Im Schuhkarton, den ich immer noch habe und in dem ich all diese Sachen verwahre, fand ich auch diese Blume. Vermutlich war sie damals dabei bei den Geschenken vor meiner Tür, aber ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Dafür kriegt sie hier einen Ehrenplatz, den Freunden gewidmet:

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