Der Sturm und ich
Die Reihe BBC Television Shakespeare war eine Reihe von Fernsehproduktionen von Shakespeare-Dramen, insgesamt 37 Folgen, erschienen 1978 bis 1985. Manche davon waren auch im deutschen Fernsehen zu sehen, übersetzt; ich erinnere mich dunkel an einige davon, die keinen großen Eindruck hinterlassen haben, und zwei, die mir sehr gut im Gedächtnis geblieben sind – das muss spätestens in der ersten Hälfte 1985 gewesen sein, als ich in der 11. Klasse war. Sie sind mir vor allem deshalb im Gedächtnis geblieben, weil wir zuhause einen Videorekorder und diese Folge aufgenommen hatten, so dass ich sie mehrfach sehen konnte, das erste Mal mit den Eltern zusammen („Das heißt zwar Komödie, aber das du darfst dir nicht vorstellen, dass das so lustig ist, wie du dir das erwartest.“), spätere Male allein oder mit Freunden, denen ich das aufzwang.
Denn mir gefiel das ausgesprochen gut: „Was ihr wollt“ (Twelfth Night) und „Der Sturm“ (The Tempest) habe ich so oft gesehen, dass ich Stellen auswendig kannte, immer auf Deutsch. Inzwischen habe ich beide Versionen digital, aber leider nur auf Englisch. Da lauten die Stellen ganz anders, und Caliban und Ariel sprechen regional gefärbtes Englisch, Prospero und Miranda nicht. Wie ich später herausfand: mit Michael Hordern als Prospero, den ich als Senex in Toll trieben es die alten Römer kannte (Richard Lester 1966, Musik und Texte von Stephen Sondheim, Kamera Nicolas Roeg, ich sag ja nur); Ford Prefect als Ariel, Manuel als Trinculo.
Prospero kannte ich auch aus Poul Andersons „Ein Mittsommernachtssturm“ (A Midsummer Tempest), erschienen 1982 in der Reihe Bastei Lübbe Fantasy, eine Abenteuergeschichte in einer Welt, in der alle Dramen Shakespeares die Realität abbilden – aus unserer Sicht voller Anachronismen und voller Magie, mit weiteren alternativen Welten obendrein.
Jacqueline Carey, Miranda & Caliban (2017)
Die letzten Wochen über habe ich diesen Roman gelesen; Wochen, weil ich sehr wenig Konzentration für das Lesen übrig hatte. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf dieses Buch gekommen bin, aber ich stehe ja auf Neuerzählungen bekannter Werke (Homer, Eichendorff, Eichendorff, Dürrenmatt, Austen, Goethe, Shakespeare, en passant Brontë).
Miranda & Caliban ist eine Neuinterpretation des Sturms in Form einer Erzählung der Vorgeschichte. Das letzte Fünftel des Buchs entspricht der Handlung des Stücks, der Rest erzählt die neun Jahre davor: wie Prospero seine Tochter erzieht und ihr immer mehr, aber nie viel, über sich und die Welt erzählt, wie er sich erst Caliban, dann Ariel zu Dienern macht, Miranda zur Lehrerin Calibans wird, später Caliban zu dem Mirandas, und wie sie sich ineinander verlieben – was Prospero natürlich überhaupt nicht brauchen kann, weil er erstens Miranda als Instrument seiner Rache/Rückkehr/Revanche braucht und zweitens Caliban als nicht ganz menschliches Monster betrachtet.
Die postkoloniale Interpretation des Dramas kenne ich seit dem Studium. Einfach gelesen ist Caliban tatsächlich ein halbwildes Monster, Prospero ein weiser und mächtiger Wissenschaftler. Andererseits war Caliban vor Prospero auf der Insel, wird gegen seinen Willen zum Diener gemacht, als anders Aussehender abqualifiziert – das lässt sich, schon mal vor dem Hintergrund der Erforschung der Neuen Welt zur Erscheinungszeit des Stücks, schon sehr leicht lesen als Geschichte um einen Europäer, der dem Eingeborenen das Land wegnimmt und ihn unterjocht, mit dem unvermeidlichen zeitgenössischen Rassismus dazu.
Das wird auch in der ersten Hälfte des Buchs angedeutet, oder fiel mir da jedenfalls auf; in der zweiten Hälfte ist es dann mehr die Geschichte eines durchaus manisch strengen alleinerziehenden Vaters, dem der Nachbarsjunge nicht gut genug für die Tochter ist, die es einmal besser haben soll. Das ist dann nicht mehr ganz so reizvoll. Es passiert das Vorhersehbare: Der Sturm als Tragödie statt als Romanze.
Jacqueline Carey schreibt wohl sonst Fantasy-Literatur mit in den deutschen Ausgaben schrecklichen Titelbildern. Zumindest dieses Buch ist allerdings kompetent geschrieben. An einigen Stellen klappt das mit dem thou und thee und shouldst und hadst nicht, aber insgesamt ist das schon sehr stimmungsvoll und passt fast fugenlos zum Stück.
Als Schullektüre? Das Buch ist nicht sehr dicht, das kommt SuS oft mehr entgegen als mir selber.
Weitere Lektüre
Sturm-Erweiterungen gibt es mehrere:
- Margaret Atwood, Hag-Seed
Eine Rache-Geschichte, die mich wiederum an den Grafen von Monte Christo erinnert hat, was mich daran erinnert hat, mal wieder The Stars My Destination von Alfred Bester zu lesen.
Der Ausgangspunkt: Ein Theaterregisseur und Festivalleiter, von schnöden Rivalen heimtückisch verdrängt, geht ins Exil und die dramaturgische Provinz. Nach zwölf Jahren erhält er die Gelegenheit, den Sturm aufzuführen, mit der Literaturgruppe des Gefängnisses, die er unter falschem Namen leitet. Besucher der Aufführung werden just und nur jene ehemaligen Gefährten sein, die ihn verraten haben (inzwischen in die Politik aufgestiegen), und er bereitet eine besondere Aufführung vor. Zwischendrin erinnerte ich mich an Vincent Price in Theatre of Blood (1973), in dem ein verrissener Shakespeare-Schauspieler blutige und angemessen übertriebene Rache an seinen Kritikern übt. Weitere Assoziationen: das Anglistentheater zu Unizeiten mit einem Theaterstück, das in einem Gefängnis spielt; und die letzte Episode der Serie The Prisoner. Dazwischen überraschend viel Abschweifungen zu Literaturtheorie und Drameninterpretation. Hat Spaß gemacht beim Lesen.
- Grace Tiffany, Ariel (die Geschichte aus Ariels Perspektive)
- Katharine Duckett, Miranda in Milan (Fortsetzung, und auch hier Umdeutung der Geschehnisse)
- Marina Warner, Indigo (übernimmt nur Motive und Namen, spielt vom 17. bis ins 20. Jahrhundert)
- Samantha Cohoe, Bright Ruined Things (Modernisierung)
- Constance Beresford-Howe, Prospero’s Daughter (Modernisierung, übernimmt wohl nur Motive)
- Poul Anderson, A Midsummer Tempest (nur am Rande, wenn ich mich richtig erinnere)
Und Comics (Sandman) und Filme zuhauf.
PS: Meine erste Begegnung mit dem Sturm war wohl in Enid Blyton, Rätsel um das verlassene Haus. In meiner Erinnerung erwähnt Dina, dass sie einmal die Miranda gespielt hat; beim Nachlesen stelle ich aber fest, dass das die Titania im Sommernachtstraum war – aber ein Äffchen namens Miranda spielt eine Rolle, und das ist nach dem Stück benannt, weil sein Besitzer das so gerne mag. Das ist aber schon sehr lange her, ich kann mich erinnern, wie ich beim Lesen von Enid Blyton meine Mutter fragte, was eine „Ko-uch“ ist, weil ich da das Wort Couch, das ich natürlich schon kannte, zum ersten Mal geschrieben sah. (Nach Elternbesuch kann ich sagen: Rätsel um die grüne Hand, S. 11.)
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